Zukunft der Gesundheit und Allergien in unserer Wirtschaft
Wir müssen uns hüten, damit wir nicht die Illusion entstehen lassen, Gesundheit würde im medizinischen Utopia zu einem Geburtsrecht für alle oder sei ein Zustand, der passiv zu erreichen ist, wenn man nur den Vorschriften der Ärzte folgt oder gekaufte Medikamente einnimmt.
Rene Dubos
Um 2000, als Ideologien und Strukturen der späten Moderne systematisch hinterfragt und dekonstruiert wurden, hat der preisgekrönte englische Romanautor Jeff Noon die multiplen Gefahren der angeblich modernen westlichen, von Industrie und Handel bestimmten Lebensstile geschickt in ein Bild gefasst. Noons 1995 veröffentlichter Cyberpunkroman Pollen, der in einer futuristischen Stadtgesellschaft spielt, die gegen das mörderische Vordringen bestäubender Pflanzen aus der Welt der Träume ankämpft, veranschaulichte den unkontrollierten technologischen Fortschritt, genetische Manipulationen, Umweltzerstörung, Drogenmissbrauch, sexuelle Freizügigkeit und die allmähliche Verwischung der Grenzen zwischen den Arten. Das alles wurde offenbar von Kindheitserfahrungen mit Heuschnupfen und der Aids-Epidemie geprägt. In Noons apokalyptischer Vision des Horrors, der auf die postmoderne Welt lauert, stellt Heuschnupfen sich als archetypische Zivilisationskrankheit dar, ausgelöst durch moderne Lebensweisen und verantwortlich für eine bizarre Gesundheitsversessenheit, einen lukrativen Markt an konventionellen und alternativen Heilmitteln sowie für Sensationsgeschichten in den Massenmedien.
Noon war nicht allein mit seinen Fantasien über künftige Risiken. Viele Autoren bezogen sich nach 1982 auf die von Maurice H. Lessof, einem bedeutenden britischen Allergologen, zur Sprache gebrachte Besorgnis, dass menschliche Wesen gegenwärtig „in einer allergieanfälligen Welt“ leben würden. Obwohl epidemiologische Studien deutlich geografische und soziale Unterschiede bei der Verbreitung von allergischen Krankheiten zutage befördert hatten, veranlassten regelmäßige Berichte über steigende Pollenzahlen und zunehmende globale Allergietendenzen westliche Kliniker, Wissenschaftler und Journalisten zu der dringenden Warnung, wenn das ungehemmt so weiterginge, würden im Jahre 2015, 50 Prozent der Europäer an einer Allergie leiden. Solche Spekulationen veranlassten das UCB Institute of Allergy (UCB-Allergieinstitut), die Allergie zur „Epidemie des 21. Jahrhunderts“ zu erklären. Der wahrscheinliche Einfluss dieser Explosion von Allergien auf Gesundheit, Wohlbefinden und Lebenserwartung war klar: Allergische Reaktionen konnten die Lebensqualität ernsthaft beeinträchtigen und in manchen Fällen sogar zum Tode führen.
Die Sorge über zunehmende Allergien beim Menschen wurde sicherlich noch dadurch verstärkt, dass parallel auch unter Tieren allergische Erkrankungen gehäuft auftraten. Man ging davon aus, dass für Pferdekrankheiten – z. B. chronische obstruktive Bronchitis, Urtikaria, Headshaking und Sommerekzem – allergische Reaktionen auf gewöhnliche Inhalationsstoffe, Insekten und Nahrungsmittel verantwortlich sein könnten. Unter Bezugnahme auf menschliche Diagnose- und Behandlungsmethoden, boten Pferdeallergiekliniken nicht nur Tests zum Messen der Blutkonzentration von IgE und zur Feststellung der Hautempfindlichkeit auf intradermale Reizungen mit Allergenen an, sondern führten auch Allergie-Neutralisierungsbehandlungen zur Desensibilisierung von Pferden ein. Die Verbreitung von Allergien artenunabhängig über Raum und Zeit hinweg und die Gelegenheit, daraus auf dem Gebiet der Veterinärallergologie Profit zu schlagen, steigerten wohl die Angst vor einer drohenden globalen Katastrophe.
Pessimistische Prognosen zukünftiger Gefährdungen können auf verschiedene Weise interpretiert werden. Zum einem kann man die gegenwärtigen Ängste, immer mehr Allergien würden mit der Zeit den größten Teil der menschlichen Bevölkerung ausrotten, als Ergebnis realistischer Einschätzungen der Risiken auffassen, die die moderne Industriegesellschaft hervorgebracht hat. Andererseits können die Ängste vor einer weltweiten Allergie-Epidemie als erneute Bestätigung altbekannter und vielleicht ein wenig abgenutzter Kritik am gesellschaftlichen und medizinischen Fortschritt gedeutet werden, wobei offenbar kulturelle und politische Zufälle die statistischen Zahlen und epidemiologischen Strukturen zu Schreckgebilden haben werden lassen.
Selbstverständlich schließen sich die unterschiedlichen Erklärungsansätze der Allergieraten gegenseitig nicht aus. So können multiple Überempfindlichkeiten gegen Chemikalien und Nahrungsmittel gleichzeitig eine schwere, lebensbedrohliche immunologische Reaktion auf Umweltverschmutzung sein, aber auch ein deutlicher Ausdruck persönlicher psychischer Störungen oder einer Revolte auf gesellschaftlichem, politischem und beruflichem Gebiet.
Zur Bekämpfung der Allergien in der Moderne wenden Allergologen, Patienten, Politiker und internationale Gesundheitsorganisationen verschiedene, oft gegensätzliche Strategien an. Diejenigen, die an den medizinischen Fortschritt glauben, neigten dazu, sich auf die konventionelle Biomedizin und Biostatistiken zu beschränken. Wissenschaftler und Kliniker haben – die Notwendigkeit von Fachwissen und professionellen Diagnose- und der Behandlungsmethoden betonend – versucht, die soziale und geografische Verteilung umfassender epidemiologisch zu untersuchen und die für allergische Reaktionen möglicherweise verantwortlichen biochemischen Vorgänge des Körpers genauer zu ergründen. Maurice Lessofs Überzeugung, in der Allergologie könnten wissenschaftliche Methoden wirksam „Tatsachen von Erfindung sondern“, führte – neben der Mutmaßung, akute Asthmaanfälle könnten durch moderne Behandlungsmethoden verringert werden zu genaueren Untersuchungen der an allergischen Reaktionen beteiligten Gene, Antikörper, Zellen und interzellulären Botenstoffe, sowie zur Erfindung innovativer, auf die Linderung oder Kontrolle gefährlicher immunologischer Reaktionsfähigkeit gerichteter Behandlungsmethoden.
Selbstverständlich sind die utopischen Träume einer biomedizinischen Bewältigung nicht neu. 1939 hatte Warren Vaughan daran geglaubt, Wissenschaftler würden „das Rätsel der Allergie schon lösen“. Drei Jahre später erkannten Milton B. Cohen, Präsident der beiden amerikanischen Allergiegesellschaften vor deren Zusammenschluss 1943 und Schöpfer der American Allergy Foundation (Amerikanische Allergiestiftung), und seine Frau June, wenn „wir bei der Eliminierung von allergischen Leiden Erfolg haben wollen, muss unser Ansatz biochemisch oder biophysisch sein“, und sie forderten ihre Allergologenkollegen dringend dazu auf, die „Grenzen der allergischen Prävention“ zu erweitern. Dennoch kamen durch den Fakt, dass sich trotz immenser Fortschritte in der Biomedizin Allergien weiter ausbreiteten, einige Allergologen, klinische Ökologen und insbesondere Umweltschützer zu einer alternativen Erklärung zur globalen Plage allergischer Krankheiten.
Ihrer Ansicht nach war die moderne Medizin, genau wie andere Industriezweige, größtenteils für das Entstehen neuer Umweltkrankheiten verantwortlich. Sich auf die romantische Vorstellung einer natürlichen, jedoch sagenhaften, unverschmutzten Vergangenheit beziehend, haben alternative Heilpraktiker Werte und Praktiken der westlichen Gesellschaft beharrlich infrage gestellt. Indem sie den nach ihrer Meinung „geistigen Bankrott“ konventioneller Medizin und moderner Lebensstile hervorhoben, machten alternative Ärzte geltend, wie wichtig ein ökologisches Gleichgewicht und persönliche Harmonie im Kampf gegen umweltbedingtes Elend und Kranksein wäre.
Weder die optimistischen biowissenschaftlichen Träume von einem zukünftigen Freisein von Krankheit, noch die ökologischen Schwarzmalereien einer drohenden Umweltkatastrophe werden der Bedeutung und Stellung der Allergie in der Moderne gerecht. Der bemerkenswerte Vormarsch von Allergien in den vergangenen Jahrzehnten ist das Ergebnis eines komplexen Wechselspiels sozialwirtschaftlicher und gesellschaftlicher Faktoren. Wie viele andere chronische Krankheiten ist die Allergie eine selbst gemachte Krankheit. Diese moderne Version von Thomas Beddoes’ im frühen 19. Jahrhundert entstandene Ansicht zur Tuberkuloseätiologie besagt einerseits, dass allergische Krankheiten existenzielle Wahrheiten darstellen, die unmittelbar mit den materiellen Vorgängen der modernen Zivilisation in Verbindung stehen und die wissenschaftlich erforscht, epidemiologisch untersucht und biochemisch behandelt werden können. Zum anderen legt die provozierende Ansicht, die moderne Welt selbst habe die allergischen Krankheiten erschaffen, auch nahe, dass Allergien Anzeichen für kulturelle Angst und ein pathologisches Konzept ist, geformt von den radikalen Kritiken der Umweltschützer an der modernen Gesellschaft und Wirtschaft sowie vom Verlangen nach persönlichem Trost.
Wie Rene Dubos in den 1950er- und 60er-Jahren gesagt hat, ist es „unklug, die Zukunft aus der beschränkten Sicht der vergangenen Jahrzehnte Voraussagen zu wollen“. Dubos war der Ansicht, dass weder eine bloße Konzentration auf Biomedizin noch weitgefasste soziale und spirituelle Reformprogramme einen realistischen Weg zu Gesundheit darstellen würden. „Es gibt überwältigend viele geschichtliche Belege“, schrieb er 1961, „dass die Evolution von Krankheiten von vielen Faktoren beeinflusst wird, die noch nicht gesellschaftlich und medizinisch kontrollierbar sind, und es vielleicht auch nie sein werden“. Für Dubos wurden Krankheiten eher vom „schöpferischen Vorwärtsstreben der Menschheit“ geformt:
In der wirklichen Welt der Zukunft wird Gesundheit wie schon in der Vergangenheit von der schöpferischen Lebensweise abhängen, von der Art, wie Menschen auf unvorhersagbare Herausforderungen reagieren, die eine stetig sich verändernde Umwelt auch weiterhin stellen wird.
Also, was hält die Zukunft für die Allergologie bereit? 1942 schlugen Milton und June Cohen launig vor, medizinische Fortschritte würden oft von der zuvor stattfindenden Sensibilisierung eines Wissenschaftlerhirnes abhängen. Die Mitte des 19. Jahrhunderts gefundene Lösung für das Problem der postoperativen Sepsis, so ihre These, sei der Tatsache zu verdanken, dass Joseph Lister (1827-1912) im übertragenen Sinne von den Arbeiten Fouis Pasteurs (1822-1896) infiziert worden wäre. Die Zukunft der Allergologie würde ähnlich aussehen, so die Cohens:
Eines Tages wird ein Allergologe auftauchen, dessen Verstand anfällig für die Allergieprobleme geworden ist. Im Verlauf seines Febens wird im Fabor eines Arztes oder eines Chemikers eine Vorstellung das Tageslicht erblicken. Diese Vorstellung wird mit den Vorgängen der lebenden Zelle zu tun haben. Sie wird wie ein Allergen wirken. Sie wird im Verstand des Allergologen eine veränderte Reaktionsfähigkeit erzeugen. Im Ergebnis wird vielleicht unser Verständnis von Allergien revolutioniert werden. Das Auftreten eines allergischen Leidens wird wahrscheinlich zu einer seltenen Ausnahme. So werden dann allergische Krankheiten womöglich zu einer interessanten Nebensache der Medizingeschichte.
Diese noch nicht realisierte Vision zukünftiger Entwicklungen, nach der die Allergie der Schlüssel zu ihrem eigenen Untergang ist, ist nicht nur wegen des Vertrauens in die erlösende Macht moderner Medizin bemerkenswert, sondern auch hinsichtlich des deutlichen Anklangs an Clemens von Pirquets ursprüngliche umfassende, aber weitgehend in Vergessenheit geratene Definition einer veränderten Reaktionsfähigkeit. Wie in so vielen anderen Bereichen der Allergiegeschichte, macht auch die von Milton und June Cohen aufgestellte Metapher der allergischen Sensibilisierung sofort wieder alternative existenzielle, intellektuelle und politische Übertragungen möglich. Die dauerhafte Gefährdung durch die diversen biologischen und gesellschaftlichen Allergieauffassungen und durch die Unzahl von Allergenen und Schadstoffen in der modernen Umwelt führt aber womöglich nicht zur Anfälligkeit, sondern schließlich zur Desensibilisierung moderner Völker. Je größer die biologische und psychologische Toleranz wird, desto stärker wird die Allergie möglicherweise zurückgehen und ein Vakuum hinterlassen, das von neuen Krankheiten, frischen gesellschaftlichen Zwangsvorstellungen und neuartigen Metaphern besetzt werden kann.