Zunahme viraler Infektionen nach der Pandemie: Fluch oder Segen?
Nach der COVID-19-Pandemie wird in vielen Teilen Europas eine auffällige Zunahme viraler Infektionen beobachtet. Auch wenn die Pandemie mittlerweile vorüber ist, spürt Europa noch immer ihre Nachwirkungen, und der jüngste Anstieg der Infektionen ist nur ein Beispiel dafür. In Dänemark etwa haben sich die Fälle von Mycoplasma pneumoniae – einem Bakterium, das Atemwegsinfektionen verursacht – bei Kindern und Jugendlichen in der Saison 2023-2024 im Vergleich zu den Jahren vor der Pandemie fast verdreifacht. Auch die Zahl der Krankenhausaufenthalte war 2,6-mal höher, jedoch ohne schwerere Krankheitsverläufe als in der Vergangenheit. Dies zeigt, dass zwar mehr Menschen erkrankten, die Schwere der Infektionen jedoch nicht zugenommen hat.
„Immunitätsschuld“ – was steckt hinter dem Begriff?
Länder wie England, Deutschland und Frankreich haben ebenfalls Anstiege von Infektionen wie dem Respiratorischen Synzytialvirus (RSV) festgestellt. Dr. Peter Openshaw, ein Experte für Atemwegserkrankungen vom Imperial College London, erklärt, dass viele dieser Viren, die während der Pandemie kaum im Umlauf waren, nun umso stärker zurückgekehrt sind. Der Grund dafür ist, was Wissenschaftler als „Immunitätsschuld“ bezeichnen: Während der Pandemie blieb der Kontakt mit verschiedenen Erregern durch Maßnahmen wie Maskentragen, häufiges Händewaschen und Social Distancing auf einem Minimum, wodurch das Immunsystem weniger stimuliert wurde. Diese „Schuld“ zahlt sich nun aus, da Menschen wieder vermehrt soziale Kontakte pflegen und Krankheiten, die zuvor kaum verbreitet waren, erneut auf dem Vormarsch sind.
Warum ist die Immunitätsschuld kontrovers?
Der Begriff „Immunitätsschuld“ ist nicht unumstritten, da er oft dahingehend missverstanden wird, dass natürliche Infektionen besser für das Immunsystem seien als Impfungen. Kritiker dieser Sichtweise behaupten, die Pandemie-Maßnahmen seien wirkungslos gewesen, da Menschen später trotzdem krank wurden. Dr. Openshaw stellt jedoch klar, dass diese Ideen „offensichtlich falsch“ seien und die Gesundheitsmaßnahmen während der Pandemie viele Leben retteten. Er betont, dass der jüngste Anstieg der Infektionszahlen größtenteils unvermeidlich gewesen sei, insbesondere bei weitverbreiteten Viren wie RSV, die sich nun vermehrt in der Bevölkerung ausbreiten.
Die Rückkehr von RSV: Eine „aufgeschobene Schuld“
RSV ist ein Beispiel für die Auswirkungen der Immunitätsschuld. RSV ist ein häufiger Virus, der durch engen Kontakt übertragen wird und in der Regel leichte Erkältungssymptome verursacht. Vor der Pandemie hatten die meisten Kleinkinder bis zu ihrem zweiten Lebensjahr Kontakt mit dem Virus, aber die pandemiebedingten Einschränkungen verhinderten, dass viele Neugeborene in den ersten Lebensmonaten damit in Berührung kamen. Dies führte dazu, dass nun eine größere Zahl von Kindern erstmals dem Virus ausgesetzt ist, was zu einer schnellen Verbreitung beiträgt. Allerdings könnte dies auch positive Seiten haben, da RSV für Säuglinge unter sechs Monaten gefährlicher ist und viele Kinder jetzt im etwas fortgeschritteneren Alter erstmals infiziert werden. „Jeder Mensch ‚schuldete‘ RSV eine Art ‚Schuld‘, die nur aufgeschoben wurde,“ erklärt Dr. Adalja vom Johns Hopkins Center for Health Security in den USA.
Zyklen von Infektionskrankheiten: Nicht alles lässt sich mit Immunitätsschuld erklären
Es sind jedoch nicht alle Infektionsanstiege auf die Immunitätsschuld zurückzuführen. Beispielsweise ist der jüngste Anstieg der Keuchhustenfälle eher auf zyklische Muster zurückzuführen, bei denen alle drei bis fünf Jahre ein Anstieg der Krankheitsfälle zu beobachten ist. Allerdings berichtete Frankreich in diesem Jahr vom schlimmsten Keuchhustenausbruch seit 25 Jahren. Solche Zyklen zeigen, dass Immunitätsschuld nicht der einzige Faktor ist, der die Zunahme bestimmter Infektionen nach der Pandemie beeinflusst.
Auswirkungen der Immunitätsschuld auf das Gesundheitswesen und die Gesellschaft
Im Jahr 2021 riefen europäische Kinderärzte dazu auf, Impfprogramme für Kinder zu stärken, um den Auswirkungen der Immunitätsschuld entgegenzuwirken. Seit 2023 sind RSV-Impfstoffe für Schwangere und ältere Erwachsene in der Europäischen Union erhältlich, und in Großbritannien wurden sie in diesem Jahr eingeführt. Diese Impfungen sollen die entstandene „Lücke“ in der Immunstimulation des Immunsystems füllen. Dr. Openshaw betont die Bedeutung von Impfungen und beschreibt sie als wichtige Methode, um Infektionslücken zu schließen, die durch die geringere Viruszirkulation während der Pandemie entstanden sind.
Dennoch stellt die erhöhte Krankheitslast durch Immunitätsschuld und zyklische Infektionswellen eine Herausforderung für Gesundheitssysteme dar. Viele Krankenhäuser kämpfen mit Personalmangel und begrenzten Kapazitäten, um die steigenden Patientenzahlen zu bewältigen. Kinderkrankheiten wie RSV und Lungenentzündungen bei Erwachsenen könnten durch die erhöhte Infektionsrate zu einer zusätzlichen Belastung für die ohnehin schon stark beanspruchten Gesundheitssysteme werden. „Wir erleben nach wie vor eine enorme Zahl an Krankenhauseinweisungen und schweren Erkrankungen durch diese Viren, da sie auf einem höheren Niveau zirkulieren als vor der Pandemie,“ so Openshaw.
Informationsquelle: who . int