Start Geschichte der Allergien Mechanismen und Bedeutungen von Allergien – wichtige Information

Mechanismen und Bedeutungen von Allergien – wichtige Information

1970

Mechanismen und Bedeutungen von Allergien – wichtige Information
In mancher Hinsicht trug die Anwendung der Begriffe ,Allergie, ,Anaphylaxie‘ und ,Überempfindlichkeit‘ durch europäische und nordamerikanische Kliniker und Laborforscher dazu bei, Pirquets Bestreben zu verwirklichen, durch Klärung der Natur von Überempfindlichkeit und deren Beziehung zur Immunität die Forscher in die Lage zu versetzen, das Gebiet gründlicher erforschen zu können. In den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts haben die Arbeiten von Pirquet, Richet, Arthus und anderen in der experimentellen Physiologie eindeutig neue Forschungen angeregt, getrennte Gebiete der klinischen Untersuchung zusammengeführt und einen Rahmen für neuartige Ansätze zur Behandlung einer Reihe unterschiedlicher Leiden zur Verfügung gestellt. Doch trotz der Bemühungen Pirquets und seiner Zeitgenossen mussten sich die frühen Untersuchungen veränderter immunologischer Reaktionsfähigkeit mit zahlreichen Problemen und Widersprüchen herumplagen.

In erster Linie führte die Allergieauffassung keinen deutlichen oder sofortigen Umsturz der Krankheitstheorien herbei, obwohl man schnell eine Überempfindlichkeit auf Fremdstoffe für viele Krankheitsverläufe annahm. Im Gegenteil, die gut eingeführten anderen Erklärungen für Heuschnupfen, Asthma und weitere verwandte Leiden behaupteten sich. Einige Autoren betonten die nervlichen Ursachen für Asthma und Heuschnupfen. In der 1914 veröffentlichten. Auflage seines Buches über Grundlagen und Anwendung von Medizin wiederholte der kanadische Arzt und königliche Professor für Medizin in Oxford Sir William Osler (1849-1919) die von diversen Autoren des 18.Jahrhunderts (z. B. von George Beard und Henry Hyde Salter) vorgetragenen Meinungen, dass „die meisten Fälle bronchialen Asthmas einen stark neurotischen Anteil“ hätten.

Einige Jahre später wandte Sir Humphry Rolleston (1862-1944), königlicher Professor für Heilkunde in Cambridge und Vorsitzender des vereinigten Ministry of Health and Medical Research Council Vaccine Committee (Ministerium für Gesundheit und Bezirksausschuss für Medizin- und Vakzinforschung), ein, die Konzentration auf die Überempfindlichkeit würde oft die Erwägung der „auf ein empfindliches Nervensystem einwirkenden Reizursachen“ ausschließen. Gleichzeitig wies er darauf hin, dass die Wirkung von Adrenalin bei Asthmaanfällen womöglich darauf beruhe, dass es den Sympathikus stimulieren und so „das Vorherrschen von Vagotonie aufheben“ würde.

Zusätzlich zur möglichen nervlichen Herkunft von Asthma und Heuschnupfen zogen Medizinautoren auch eine Reihe anderer ätiologischer Erklärungen in Erwägung. Obwohl allgemein anerkannt wurde, dass Pollen (oder andere externe Wirkstoffe) bei bestimmten Menschen Heuschnupfen und Asthma auslösen würden, betonten Kliniker ebenso die Rolle von lokalen physischen oder chemischen Reizungen der Nasen- oder Bronchialschleimhäute, von Bakterieninfektionen (mit oder ohne Anfälligkeit für Bakterienproteine), von psychologischen oder emotionalen Faktoren speziell bei Asthma, und vermehrt die Rolle von Vererbung. Noch bezeichnender ist, dass sich einige Autoren ein starkes Interesse an der Möglichkeit bewahrt hatten, sogenannte allergische Reaktionen wären womöglich keine Reaktion des menschlichen Immunsystems, sondern die direkte Wirkung eines Toxins. Tatsächlich wurde, wie ich im 3. Artikel zeigen werde, eine von zwei britischen Ärzten im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts entwickelte neue Behandlungsmethode für Heuschnupfen von der Annahme geleitet, das Leiden würde hauptsächlich „von einem in Graspollen befindlichen, löslichen Toxin verursacht“, gegen das eine aktive Immunität zuwege gebracht werden könnte.

Signifikant führten die ständigen Ausweitungen der konkurrierenden Auffassungen von Heuschnupfen und Asthma gelegentlich zu einer deutlichen Ablehnung der Rolle der Allergie und Anaphylaxie beim Krankheitsverlauf. So wies Jules Bordet (1870-1961), Professor für Bakteriologie an der Universität von Brüssel, 1913 darauf hin, auch wenn die Anaphylaxie verdächtigt würde, für „eine große Anzahl von Krankheiten“ verantwortlich zu sein, so wäre die Rolle der Überempfindlichkeit bei Infektionskrankheiten doch auf Kosten der „pathogenen Rolle von Mikrobengiften“ überbetont worden.

In der anonymen Besprechung des Buches eines deutschen Autors zum Thema „allergische Diathesis“ wurde 1926 nicht nur behauptet, die „Allergie wird nicht alle Fragen lösen“, die von verschiedenen Leiden aufgeworfen würden, die ein „verschwommenes Hinterland der klinischen Medizin“ beschäftigten, sondern auch, dass der Autor für einige Leser „seine Theorien zu weit“ getrieben hätte. Und in den 1930er-Jahren betonte der Londoner Chirurg Alexander Francis unter Empfehlung seiner Behandlungsmethode der nasalen Kauterisation zur Behandlung von Asthma, man habe die Rolle der Hyperpyraemia beim Entstehen „einer Störung des vasomotorischen Systems“, was zu Asthma führen könnte, hauptsächlich deshalb außer Acht gelassen, weil Überemp-findlichkeit und Desensibilisierung „sich in der öffentlichen Meinung festgesetzt hatten“:

Die Hauttests waren einfach und faszinierend, und Impfstoffe, die Immunisieren sollten, wenn das schädliche Protein gefunden war, waren als Behandlung gegen alles so populär, dass geglaubt wurde, das Ende aller Asthmaprobleme würde bevorstehen.

Mehrere Autoren haben jedoch darauf hingewiesen, dass die Krankheitstheorien zur Allergie und die Annahme neuer Diagnosemethoden regelmäßig die Frage nach der Ätiologie nicht klären konnten. Insbesondere war es oft schwierig, die spezifische immunologische Reaktionsfähigkeit mit den klinischen Symptomen in Einklang zu bringen, da die Hauttests auf Fremdstoffe, wie die des amerikanischen Allergologen Isaac Chandler Walker (1883-1950), bei Asthmapatienten ergebnislos blieben. Folglich waren Ärzte, die mit Hauttests „einen Asthmaanfall auf eine Wurst [zurückführen wollten], in die sich ein alter Klepper verirrt hat“, oft frustriert, wenn sie keine besondere Anfälligkeit nach- weisen konnten, und ihnen nur „die altmodische Diagnose bronchiales oder nervöses Asthma“ übrig blieb.

Auch wenn die Rolle von Allergien bei der Pathogenese menschlicher Krankheiten Spekulation blieb, gab es dennoch Diskussionen über den biologischen Verlauf und die Bedeutung von Allergien. In Einklang mit der wachsenden Konzentration auf humorale (nicht so sehr auf zelluläre) Formen der Immunität bestand ein allgemeiner Konsens, dass die meisten, wenn nicht sogar alle Formen der Überempfindlichkeit bei Tieren und Menschen von Antikörpern ausgelöst würden.

Sowohl die Spezifizität von Überempfindlichkeitsreaktionen als auch die passive Übertragung experimenteller Anaphylaxie durch das Serum sensibilisierter Tiere waren in frühen Untersuchungen eindeutig belegt worden. 1921 deckten zwei deutsche Ärzte, Carl Prausnitz (1876-1963) und Heinz Küstner (1897-1963), auf, dass menschliche Nahrungsmittelidiosynkrasien (in diesem Falle gegen Fisch) auf ähnliche Weise durch Serum übertragen werden konnten, womit die Rolle von Antikörpern bei menschlichen Allergien bewiesen war.

Dennoch gab es Ausnahmen von dieser Regel. Obwohl Pirquet annahm, positive Reaktionen auf die Tuberkulinprobe würden von Antikörpern ausgelöst, wies unter anderem Richet auf beachtliche Unterschiede zwischen der Anaphylaxie und erhöhter Tuberkulinanfälligkeit hin. Entsprechend argumentierte später Rolleston, „die Worte Anaphylaxie und anaphylaktoid sollten in Zusammenhang mit Medikamentenidiosynkrasien vermieden werden“, da das Vorhandensein von Antikörpern gegen Medikamente nicht hinreichend belegt worden wäre.

Diesen Ausnahmen wurde keine Beachtung geschenkt. Die Identifikation spezifischer humoraler Substanzen (die für Antikörper gehalten wurden) in Fällen experimenteller Anaphylaxie und beim klinischen Auftreten von Allergien diente lediglich dazu, weitere Fragen über die an Überempfindlichkeitsreaktionen beteiligten spezifischen Vorgänge aufzuwerfen. Wie ein Autor 1917 in der Lancet hervorhob, wurden zur Erklärung der Anaphylaxie „von Zeit zu Zeit verschiedene Theorien vorgeschlagen“, doch die meisten wären „in der einen oder anderen Hinsicht mangelhaft“ gewesen. In gewissem Grade spiegelten die wetteifernden Erklärungen für die biologischen Überempfindlichkeitssymptome tiefer liegende Ungewissheiten über das Vorhandensein und Ausmaß von Antikörpern und über die genaue Art der Antigen-Antikörper-Reaktionen.

Hinzu kam, dass sie gleichzeitig auch von praktischen sowie theoretischen Sorgen über die Art und mögliche Rolle von Antikörpern in immunpathologischen Prozessen angetrieben wurden. Da die Forscher für die Überempfindlichkeit das Vorhandensein sich ausfällender oder agglutinierender Antikörper nicht nachweisen konnten und es allgemein schwerfiel zu akzeptieren, dass ,normale‘ Antikörper in die Pathogenese verwickelt sein könnten, nahm man an, es existiere eine bislang unentdeckte Art von Antikörpern, die auch schon mal als „Serumreagin“, „reaginische Antikörper“ oder „atopisches Reagin“ bezeichnet wurden, oder aber ein gänzlich anderer Serumfaktor.

Wie auch immer, der Ort und die Wirkungsweise von bestimmten Antikörpern (und anderen humoralen Substanzen wie Alexin) blieben schwer fassbar. So gab es erbitterte Auseinandersetzungen darüber, ob die fraglichen Antikörper im Blutkreislauf aktiv wären oder ob sie erst wirksam würden, wenn sie sich an Zellen geheftet hätten. Im Einklang mit der immer stärkeren Konzentration auf ein chemisches Verständnis von Immunität, wurde von einigen Autoren ein komplexer humoraler Mechanismus als gegeben vorausgesetzt, demzufolge die erste Gefährdung durch ein Antigen zur Produktion einer spezifischen Substanz führen würde (wahrscheinlich reagine Antikörper), die abwechselnd als „Toxigenin“ (Richet) oder „Sensibilisin“ (Besredka) bezeichnet wurde. Bei wiederholter Gefährdung würde diese Substanz mit dem Antigen reagieren, um ein serumeigenes Toxin zu bilden (von Richet „Apotoxin“, von Friedberger „Anaphylatoxin“ genannt), das für die lokalen und organischen Symptome von Allergie oder Anaphylaxie verantwortlich wäre.

Anderen Autoren, einschließlich Pirquet, Bordet und auch Besredka, erschien es jedoch plausibler, dass das Antigen entweder mit außen an den Zellen haftenden oder mit darin vorhandenen Antikörpern interagiere, was die sensibilisierten Zellen zu einem Ausstoß aktiver Ambozeptoren veranlasse. Folgt man Pirquet, legt die Verzögerung zwischen der Injizierung einer Antikörper-Allergen-Mischung und dem Auftreten von Symptomen nahe, dass „der Antikörper sich wahrscheinlich erst mit den Zellen des Organismus“ vereinigen muss“. Ein anonymer Kritiker von Besredkas Anfechtung der Humoraltheorie Friedbergers, für den sich diese beiden unterschiedlichen Ansätze „nicht notwendigerweise gegenseitig“ ausschlossen, fasste es 1919 diplomatisch: „Wie üblich werden beide Parteien wahrscheinlich mehr oder weniger Recht haben und möglicherweise ist die Wahrheit die, dass die Reaktion in der Zelle stattfindet, die daraufhin giftige Substanzen freisetzt, die sich im ganzen Körper, aber auch lokal bemerkbar machen können.“

Diese Fragen über die Wirkweise wurden teilweise von den Laboruntersuchungen des britischen Wissenschaftlers und Arztes Henry Dale (1875-1968) beantwortet. Nachdem er erfolgreich einen Abschluss in Naturwissenschaften in Cambridge und einen in Medizin in London gemacht hatte, nahm Dale 1904 einen Posten als Pharmakologe in den Physiologischen Forschungslaboren von Wellcome an, deren Direktor er später wurde. 1910 gelang es Dale und dem Chemiker George Barger (1878-1939), in den Laboren von Wellcome in vitro das 2-(4-Imi- dazolyl)-Ethylamin oder Histamin, die für die Kontraktion der Uterusmuskeln von Katzen verantwortliche Substanz des Mutterkorns, zu isolieren. Auch wenn zunächst unklar war, ob Histamin von Natur aus in Tieren vorkommt, bewiesen weitere Untersuchungen Dales und seiner Kollegen die verschiedenen physiologischen Auswirkungen der Substanz in vivo, einschließlich peripherer Vasodilation, Blutdruckabfall, Bronchialkrämpfen und fallender Rektaltemperatur. Der mögliche Einfluss von Histamin auf Überempfindlichkeitsreaktionen wurde sofort vermutet, da, wie Dale und Patrick Laidlaw (1881-1940) 1911 hervorhoben, ein Fallen der Rektaltemperatur für „den anaphylaktischen Schock“ typisch ist“.

Zwei Jahre später leistete Dale eher zufällig einen weiteren wichtigen Beitrag zu diesem Gebiet, als er ein in-vitro-Modell der Anaphylaxie entwickelte, für das er Glattmuskeln des Uterus, nicht die des Darms, eines sensibilisierten Meerschweinchen verwandte. Bezeichnenderweise wandte Dale sein experimentelles System an, um die von ihm so aufgefassten „rivalisierenden Theorien“ von der Anaphylaxie zu überprüfen, speziell aber jene, bei denen es um den Ort der Antigen-Antikörper-Reaktion ging. Seine Arbeit bewies insbesondere, dass die anaphylaktische Kontraktion als Reaktion auf weitere Angriffe des sensibilisierenden Antigens auch durch intensives Waschen glatter Muskeln mit Ringers Lösung, was sie „von Körperflüssigkeiten befreite“, nicht abgestellt wurde. Obwohl er zugeben musste, dass seine Arbeit die präzise Natur des „anaphylaktischen Antikörpers“ oder seine Beziehung zum Präzipitin nicht erhellen konnte, kam Dale dennoch zu dem Schluss, seine Untersuchungen würden die Theorie unterstützen, nach der Antigene mit zellen- oder gewebefixierten Antikörpern interagieren würden.

Auch nachdem Dale 1936 den Nobelpreis für seine Arbeit über die chemische Übertragung von Nervenimpulsen bekommen hatte, mischte er sich weiter regelmäßig in die Diskussion über den von ihm so benannten „anaphylaktischen Prozess“ ein. So konnte er insbesondere das natürliche Vorkommen von Histamin in normalem Gewebe nachweisen und die These aufstellen, zwischen dem Histamin und der von Thomas Lewis (1881-1945) entdeckten H-Substanz bestünde eine Verbindung, die für die charakteristische „Triple Response“ (bestehend aus Rötung, Erythem und Quaddel) bei lokalen Hautreizungen verantwortlich wäre. In einer 1929 gehaltenen Vorlesungsreihe am Royal College of Physicians war Dale von den gesammelten Beweisen zur Rolle von gewebefixierten (nicht zirkulierenden) Antikörpern sowie der Freisetzung von Histamin bei der Anaphylaxie so überzeugt, dass er versichern konnte:

Wir können daher den anaphylaktischen Schock als das Ergebnis einer Zellenschädigung auffassen, ausgelöst durch die intrazelluläre Reaktion des Antigens mit dem akkumulierten Antikörper. Egal, ob dies nun überall oder in einem bestimmten Organ stattfindet, es wird Histamin freigesetzt, und seine Wirkung löst die folgende Reaktion aus, die eine generelle Ähnlichkeit mit dem vom Histamin selbst erzeugten Syndrom aufweist oder mit den an jeder Spezies zu beobachtenden Symptomen.

Dales Betrachtungen verknüpfen eine Reihe bekannter Probleme über den genauen Zusammenhang der experimentellen Anaphylaxie mit den klinischen Vorstellungen von Allergie. Obwohl ihm die Unterschiede bei Tierversuchen und menschlichen klinischen Leiden aufgefallen waren, behauptete er 1929 dennoch, dass die experimentelle Anaphylaxie und eine Reihe von natürlichen oder erworbenen menschlichen Idiosynkrasien alle auf eine ähnliche Weise durch eine Ausschüttung von Histamin ausgelöst würden.

Die Verbindung zwischen den beiden Leiden war ursprünglich von Richet aufgebracht worden, der gehofft hatte, die Anaphylaxie als geeignetes Modell zur Erforschung allgemeiner pathologischer Gesetzmäßigkeiten aufstellen zu können. Dass die Anaphylaxie bei verschiedenen Spezies unterschiedlich auftrat und sie sich viel schwieriger bei Menschen als bei Tieren herbeiführen ließ, führte jedoch zu interessanten und weitgehend ungelösten Fragen über den Zusammenhang zwischen der in Labor und der im Krankenhaus beobachteten veränderten biologischen Reaktionsfähigkeit. Daher stellte John Freeman (1876-1962), der Doyen der klinischen Allergologie in Großbritannien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die Bedeutung und Nützlichkeit des Begriffes ,Anaphylaxie“ weiter infrage und verkündete 1950, das Konzept hätte „kaum etwas mit Humanmedizin zu tun“.

In einer Reihe von Veröffentlichungen nahm Henry Dale zwei miteinander in Beziehung stehende ungelöste Fragen dieses Gebietes genau ins Visier, nämlich den Zusammenhang von Immunität und Überempfindlichkeit und die biologische und entwicklungsgeschichtliche Bedeutung oder den Sinn von Anaphylaxie. Das waren genau die Fragen, die etliche Jahre zuvor zu Clemens von Pirquets ursprünglichem Allergiekonzept geführt hatten. In den darauffolgenden Jahrzehnten waren viele Autoren regelmäßig auf diesen Punkt zurückgekommen. Einige von ihnen hatten die zeitgenössische bakteriologische Vorstellung, die immunologische Prozesse als eine Form der Verteidigung gegen eindringende Organismen auffasste, und die Annnahme Paul Ehrlichs, dass unter normalen Umständen eigene Antigene attackierende Antikörper entweder nicht produziert oder aber eliminiert würden, zu dem Vorschlag ermutigt, die Überempfindlichkeit sei lediglich eine immunologische Fehlfunktion, oder, so Carl Prausnitz in einer am St. George Hospital in London gehaltenen Vorlesung, „eine fehlgeleitete Immunität“. Medizinautoren haben nicht nur für möglich gehalten, dass verschiedene Arten von Antikörpern für die Immunität und Anaphylaxie verantwortlich sein könnten, sondern auch in Darwinschen Begrifflichkeiten angedeutet, bei der Anaphylaxie könnte es sich um ein Versagen der natürlichen Abwehrsysteme, sich neuen Substanzen anzupassen, handeln.

Doch Wissenschaftler und Kliniker stellten diese Auffassung von Allergie und Anaphylaxie immer mehr infrage, da sie scheinbar im Widerspruch zur Immunität stand. 1912 meinte beispielsweise Hektoen, es bestünde „kein Widerspruch zwischen Immunität und Allergie, die eine Art Antikörperreaktion ist und sozusagen ein Zwischenfall im Verlauf der Immunisierung“. Ähnlich hat Bordet darauf bestanden, dass Anaphylaxie nicht „das Gegenteil von Immunität“ wäre, sondern vielmehr „ein Unfall im Verlauf der Abwehr“, der die „Tatsache“ belegen würde, „dass ein Kampf gegen das fremde Element stattfindet“. Richet und andere zogen daraus den Schluss, dass die Anaphylaxie ein notwendiger Schritt bei der Entwicklung von Immunität und daher Teil eines umfassenden Abwehrsystems wäre. In der Tat sollte Richet noch weitreichendere Ansprüche für die biologische Bedeutung der Anaphylaxie geltend machen. So behauptete er 1913 in seiner Nobelpreisrede, die Anaphylaxie trage dazu bei, die Einheit „der humoralen Persönlichkeit“ aufrechtzuerhalten, die (gleich der psychologischen Persönlichkeit) die „uns von anderen unterscheidende chemische Zusammensetzung unserer Temperamente“ bestimmen würde. So gesehen diente die Anaphylaxie dazu, die chemische „Integrität der Gattung“ zu schützen, manchmal auf Kosten des Einzelnen.

Anaphylaxie ist daher nötig für die Menschheit, oft zum Nachteil des Einzelnen. Der Einzelne mag zugrunde gehen, aber das ist egal. Die Menschheit muss zu allen Zeiten ihre organische Einheit bewahren. Anaphylaxie beschützt die Menschheit vor der Gefahr der Degeneration.
Richets Betonung der entwicklungsgeschichtlichen Bedeutung der Anaphylaxie bezog sich auf ältere, wirklich hartnäckige rassistische Theorien über idiosynkratische Erkrankungen wie Heuschnupfen. Auch das zeitgenössische eugenische Bestreben, soziale, politische und geografische Grenzen zwischen den Klassen zu errichten und zu sichern, spielte hier eine Rolle.

Ebenso die Angst, in einem Zeitalter, in dem nationale Identitäten in Gefahr sind und der Imperialismus bedroht war, die Reinheit der Rasse nicht bewahren zu können. Auch wenn Richets Einstellung nicht typisch für die Mehrzahl klinischer und medizinischer Schriften über Allergie und Anaphylaxie war, wirkten viele seiner Ansichten dennoch in modifizierter und abgeschwächter Form fort. So wurde seine Behauptung, die humorale Persönlichkeit würde (wie ihr psychologisches Gegenstück) eine Art chemisches Gedächtnis sowohl der Menschheitsentwicklung als auch des individuellen Werdegangs enthalten, nach dem Zweiten Weltkrieg von führenden Immunologen und Mikrobiologen wie Frank Macfarlane Burnet (1899-1985) und Rene Dubos wieder aufgegriffen. Darüber hinaus blieb die Idiosynkrasieauffassung gewahrt, wenn er, im Gegensatz zu einer immer stärker verallgemeinernden, statistischen Auffassung von Krankheit, die biologische Einzigartigkeit betonte und eine „andere Art von Physiologie“ befürwortete, die mehr das Individuum als die Menschheit ins Auge fassen sollte.

Auch wenn viele Immunologen und Kliniker in den 1920er-Jahren die biologische Individualität als „eine überholte Angelegenheit“ ansahen, fuhren Verfechter des im Entstehen begriffenen Gebietes der Allergologie fort, die Art und Behandlungsweise idiosynkratischer Reaktionen auf Fremdstoffe zu erforschen, womit sie die Basis für Behandlungsmethoden legten, die nicht auf die Vermeidung von Allergenen abzielten (z. B. der Ortswechsel bei Heuschnupfen und Asthma), sondern auf die Modifikation oder Beseitigung der destruktiven Elemente einer veränderten biologischen Reaktionsfähigkeit.