Genetisches Screening für Neugeborene: Hoffnung für Millionen in Europa
Früherkennung für seltene Krankheiten
Dr. Alessandra Ferlini hat eine ehrgeizige Vision: medizinische Hilfe für Menschen mit seltenen Krankheiten soll so früh wie möglich beginnen – schon direkt nach der Geburt. Als außerordentliche Professorin für medizinische Genetik an der Universität Ferrara in Italien setzt sie sich dafür ein, dass jedes Neugeborene in Europa genetisch untersucht wird, um seltene Krankheiten frühzeitig zu diagnostizieren.
Seltene Krankheiten, jede einzeln betrachtet, betreffen oft nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen. Doch in ihrer Gesamtheit gibt es über 7.000 dieser Krankheiten, die bis zu 36 Millionen Menschen in der EU betreffen. Etwa 80 % dieser Krankheiten haben genetische Ursachen, und 70 % zeigen ihre ersten Symptome bereits im Kindesalter.
Screen4Care: Ein Projekt für schnellere Diagnosen
Unter der Leitung von Dr. Ferlini zielt das EU-finanzierte Projekt Screen4Care darauf ab, durch genetisches Screening und den Einsatz künstlicher Intelligenz die Diagnose und Behandlung seltener Krankheiten zu beschleunigen. Das fünfjährige Projekt läuft bis 2026 und wird in Kürze in Italien starten. Anschließend soll das Screening in anderen EU-Ländern ausgeweitet werden, mit dem Ziel, 25.000 Neugeborene auf 245 behandelbare seltene Krankheiten zu testen.
Die Methode des genetischen Screenings, auch gNBS genannt, ermöglicht eine frühere Diagnose und damit effektivere Behandlungen. Gleichzeitig liefert sie wertvolle Daten für die Forschung, um seltene Krankheiten besser zu verstehen und neue Therapien zu entwickeln.
Die Vorteile einer früheren Diagnose
Kinder mit seltenen Krankheiten könnten durch ein genetisches Screening früher diagnostiziert und behandelt werden. Dies bedeutet nicht nur bessere Gesundheitsergebnisse für die Betroffenen, sondern auch Erleichterung für die Familien. „Das Screening hilft den Eltern, die Situation ihres Kindes besser zu verstehen, die notwendige Unterstützung zu finden und finanzielle Hilfe zu erhalten“, erklärt Gulcin Gumus von EURORDIS, einer Allianz von mehr als 1.000 Patientenorganisationen.
Aktuell dauert es in Europa durchschnittlich fast fünf Jahre, bis eine seltene Krankheit diagnostiziert wird. Mit einem flächendeckenden Screening könnte diese Zeitspanne erheblich verkürzt werden. Das spart nicht nur wertvolle Zeit, sondern reduziert auch die Belastung der Gesundheitssysteme durch spätere Komplikationen.
Wie funktioniert das Screening?
Das genetische Screening erfolgt zwei Tage nach der Geburt: Fünf Tropfen Blut werden entnommen und mithilfe der sogenannten Next-Generation-Sequenzierung analysiert. Diese Methode ist schneller und effizienter als die derzeitigen Programme in vielen EU-Ländern, die nur auf wenige seltene Krankheiten abzielen und oft nur auf Stoffwechselmarker testen.
Ein Beispiel für die Unterschiede: Während Italien bereits auf über 40 seltene Krankheiten testet, deckt Rumänien derzeit nur zwei ab. Screen4Care strebt eine Angleichung der Screening-Standards in der EU an, um allen europäischen Bürgern unabhängig von ihrem Wohnort eine gerechte Gesundheitsversorgung zu bieten.
Herausforderungen und Chancen
Die Teilnahme am Projekt ist freiwillig, Eltern müssen sich aktiv für das Screening entscheiden. Gleichzeitig gibt es wichtige offene Fragen: Wo werden die Daten gespeichert? Wer hat Zugang? Und wem gehören die Informationen, bis die Kinder volljährig sind? Datenschutz ist ein zentrales Thema, da genetische Informationen besonders sensibel sind.
Trotz der Herausforderungen bietet eine zentrale Datenerfassung enorme Chancen. Seltene Krankheiten sind oft unterforscht, weil es an ausreichend Daten fehlt. Mit Screen4Care könnten Forscher auf eine umfangreiche und einheitliche Datenbasis zugreifen, um bessere Diagnosen und Behandlungen zu entwickeln.
Zusammenarbeit und Datenspeicherung
Die im Projekt gewonnenen Proben werden zunächst in einem eigenen Repository gespeichert und könnten später in sicheren Biobanken aufbewahrt werden. Screen4Care plant eine Partnerschaft mit anderen EU-Initiativen wie der Europäischen Partnerschaft für seltene Krankheiten und dem Europäischen Gesundheitsdatenraum. Diese Kooperationen könnten die Forschung erheblich voranbringen.
Das langfristige Ziel ist es, seltene Krankheiten nicht nur schneller zu diagnostizieren, sondern auch bessere Behandlungen zu ermöglichen. Laut Dr. Ferlini könnte die Identifizierung nur eines gemeinsamen Faktors, der mehrere seltene Krankheiten beeinflusst, einen enormen Durchbruch darstellen.
Ein Modell für die Zukunft
Screen4Care ist mehr als nur ein Forschungsprojekt – es ist ein Modell für die Zukunft der Medizin. Durch die Kombination von genetischem Screening, KI-gestützter Datenanalyse und einer fairen Gesundheitsversorgung könnte Europa weltweit führend in der Behandlung seltener Krankheiten werden.
Die Arbeit von Dr. Ferlini und ihrem Team zeigt, dass frühzeitige Interventionen nicht nur Leben retten, sondern auch die Lebensqualität von Millionen verbessern können. Dies ist ein Schritt in Richtung einer gerechteren und innovativeren Gesundheitsversorgung für alle Europäer.
Informationsquelle: who . int