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Ausbeutung der Allergien Allergieraten und die globale Wirtschaft

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Ausbeutung der Allergien Allergieraten und die globale Wirtschaft
Den finanziellen Einfluss steigender Allergieraten spürte man in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch in anderen Industrie- und Einzelhandelsbereichen. Da gab es sowohl wirtschaftliche Gelegenheiten als auch massive öffentliche und politische Kritik an Profitmacherei und Werbetaktiken. Die starke Konzentration auf Allergien wurde für Unternehmen der Reinigungs-, Kosmetik- und Nahrungsmittelindustrie in aller Welt zu einem Ärgernis, aber auch zu einer Einkommensquelle. Zur selben Zeit wurde durch zunehmende allergische Reaktionen auf immer mehr Pharmapräparate die moderne Ärzteschaft in die globale Verbreitung von allergischen Krankheiten einbezogen und Ängste der Öffentlichkeit vor gesundheitsschädlichem Einfluss der modernen Umwelt vergrößerten sich.

Der wachsende Argwohn, es könne eine Verbindung zwischen häuslichen Allergenen (wie Hausstaubmilben und Tierschuppen) und den Asthma- und Ekzemtendenzen der Nachkriegszeit bestehen, lieferte Unternehmen eine wunderbare Gelegenheit, Produkte (z. B. Staubsauger und Bettdecken) zu entwerfen und zu vermarkten, die bei der Vermeidung von Allergenen behilflich sein sollten. Es war nicht das erste Mal, dass allergische Krankheiten Neuheiten in der Reinigungsindustrie angeregt hatten. Die kommerzielle Herstellung von elektrischen Staubsaugern durch William H. Hoover (1849-1932) Anfang des 20. Jahrhundert geschah ursprünglich aus dem Wunsch heraus, eine Lösung gegen Staubasthma zu finden.

1907 hatte James Murray Spangier (1848-1915), Hausmeister in einem Kaufhaus in Ohio, eine Saugmaschine erfunden und patentieren lassen (seinen „Teppichkehrer und -sauger“), die, wie er hoffte, den Staub an seinem Arbeitsplatz beseitigen würde, da das Teppichbürsten sein Asthma verschlimmert hatte. Spangier konnte zuerst Hoovers Frau interessieren, dann Hoover selbst, der das Patent kaufte, seine Electric Suction Sweeper Company (Elektrische Saugkehrmaschinenfabrik) gründete und 1908 anfing, seinen ersten elektrischen Staubsauger, Modell 0, herzustellen und zu verkaufen, erst in Amerika und dann auf der ganzen Welt. Ein ähnlicher Versuch, Strohstauballergien zu vermindern, motivierte offenbar die Staubsaugerherstellung von Bissell.

In den 1980er- und 90er-Jahren spezialisierte sich mehrere kleinere Firmen wie Medivac Healthcare Limited, HEALTHe Limited und The Healthy House auf die Konstruktion und den Vertrieb von Staubsaugern mit hochwirksamen Luftpartikelfiltern, auf Maschinen zum Entzug von Feuchtigkeit, auf milbensichere Bezüge für Matratzen, Kopfkissen und Plumeaus und auf akaridentötende Sprays. Das war eine Reaktion auf das wachsende Interesse von Öffentlichkeit und Ärzteschaft an der Rolle von Staub bei Allergien. Doch die Versuche, der Gefährdung durch Allergene auf diese Art Herr zu werden oder „dem Allergendschungel zu entkommen“, wie eine Werbebroschüre versprach, stützten sich nicht nur auf die frühen Versuche auf dem Gebiet der klinischen Allergologie, wie beispielsweise dem pollenfreien Zimmer oder Schutzmasken, sondern auch auf die traditionelle ideologische Vorliebe des Westens für hygienische Häuser sowie auf die zeittypischen Ängste vor den steigenden Allergieraten. Auch wenn solche Ansätze zur Allergiekontrolle in einigen europäischen Ländern gut geheißen wurden, wurden in Großbritannien ihre Wirksamkeit und auch ihr Status als medizinische Produkte angezweifelt (was zu ihrem Ausschluss aus der VAT führte). Kritiker der von der Werbung für diese Produkte aufgestellten Behauptungen haben jedoch darauf hingewiesen, dass Verbraucher weiter teure Staubsauger und andere Rei-nigungsmaschinen aus ihrer Privatschatulle finanzierten, und moderne literarische Verarbeitungen der Angst von Eltern vor Kinderasthma lassen das glaubwürdig erscheinen. Auf diese Weise wurde ein lukrativer Markt für Antiallergiegeräte in Gang gehalten.

Dazu kam, dass das Streben nach Profit durch Reinlichkeit wiederum selbst Probleme schuf. Wie ich im nächsten Artikel darlegen werde, war ein immer hygienischerer Lebensstil mitverantwortlich für die steigenden Allergiezahlen. Und zusätzlich beschleunigten die dramatischen Entwicklungen in der Seifen- und Waschmittelindustrie in den Nachkriegsjahren heftige Auseinandersetzungen über neue arbeitsplatz- und umweltbedingte Gefahren für Asthma und Ekzeme. Dass bestimmte Substanzen (wie Seife, Seide und Weizenmehl) bei Arbeitern allergische Reaktionen entweder durch Einatmen oder Hautkontakt provozieren konnten, war bereits im frühen 20. Jahrhundert bekannt. Nach dem Zweiten Weltkrieg verbesserten hinzugefügte Enzyme die Wirkung einer neuen Generation von „biologischen“ Waschpulvern. Das trieb die Profite der Seifenindustrie in die Höhe. 1971 enthielten schätzungsweise 80 Prozent der in den Vereinigten Staaten verkauften Waschmittel Enzyme, was zu „Einzelhandelsverkäufen von einer halben Milliarde Dollar“ führte.

Einige Forscher fingen jedoch an, die Sicherheit moderner Waschmittel infrage zu stellen. Bereits 1962 hatte Rachel Carson in einer einflussreichen Untersuchung der Gefahren für die Umwelt behutsam darauf hingewiesen, die Waschmittel könnten möglicherweise Krebs erregen. In den späten 1960ern und 70ern ließ Michael Flindt vom Department of Occupational Health (Amt für Gesundheit am Arbeitsplatz) im britischen Manchester weitere Sorgen über die Sicherheit von Waschmitteln verlauten. In mehreren Artikeln erörterte er, dass die aus dem Bacillus subtilis gewonnenen proteolytischen Enzyme Atemwegserkrankungen und Hautreizungen bei Arbeitern, die mit der Herstellung von Waschpulvern und anderen Reinigungsmitteln befasst waren, hervorrufen könnten. So kam er 1969 zu dem Schluss, dass „enzymatische Präparate aus B. subtilis (,Alcalase‘ und ,Maxatase’), die in unveränderter Form in Fabriken eingesetzt werden, Anfälligkeiten und allergische Brustkrankheiten hervorgerufen haben, die von Typ-I- wie auch Typ-III-Reaktionen übertragen worden sein könnten“. Weitere Untersuchungen enthüllten nicht nur die Gefahren am Arbeitsplatz von in großem Maßstab hergestellten Enzymen, sondern auch das Potenzial, bei fortwährend niedriger Dosierung Asthma und Ekzeme bei Hausfrauen auszulösen.

Flindts Erkenntnisse provozierten erbitterten Streit zwischen verschiedenen Wissenschaftlern, Regierungsstellen und Journalisten, die dessen Ansicht unterstützten, und führenden amerikanischen Waschmittelherstellern (z. B. Proctor &c Gamble und Lever Brothers), die zur Sicherung eines lukrativen Marktes „die Sicherheit und Effizienz ihrer Enzymprodukte energisch verteidigten“.

Ein langer, 1971 im New Yorker veröffentlichter Artikel arbeitete die politischen Züge dieser Auseinandersetzungen heraus. Der Journalist Paul Brodeur untermauerte seine Befürchtungen einer bevorstehenden „Gefahr für die Volksgesundheit riesigen und vielleicht unumkehrbaren Ausmaßes“, indem er Rene Dubos zitierte, den Leiter der Abteilung für Umweltmedizin an der Rockefeller University. Dieser hatte nämlich vorgeschlagen, die Einführung einer jeden technischen Neuerung zu verbieten, solange nicht die Folgen für Umwelt und menschliche Gesundheit eindeutig festgestellt worden wären. Gleichzeitig entlarvte Brodeur nicht nur die wirtschaftlichen Interessen der Seifen- und Waschmittelhersteller, sondern enthüllte auch ihre erschreckende Ignoranz der klinischen Dimension des Problems: Auf einer 1969 veranstalteten Konferenz, auf der öffentlich über das Thema diskutiert werden sollte, hieß es von einem Direktor einer der größten Waschmittelhersteller, er habe die Sorgen hinsichtlich von Enzymen und Allergien in Abrede gestellt und gesagt, „wie dem auch sei, an Asthma ist noch niemand gestorben“.

Die Versuche der Hersteller, die Probleme kleinzureden, konnten nicht verhindern, dass sich die Befürchtungen in der Öffentlichkeit und unter Ärzten verbreiteten. In den 1980er-Jahren trugen steigende Asthma- und Ekzemzahlen am Arbeitsplatz wesentlich zur wirtschaftlichen Belastung durch allergische Krankheiten bei, nicht nur was die Behandlungskosten, sondern auch was die indirekten Kosten durch Arbeitsausfall und Krankengeld anging. „Um festzulegen, dass arbeitsplatzbedingtes Asthma eine Arbeitsplatzerkrankung ist, die als Arbeitsunfall entschädigt werden muss“, führte die britische Regierung 1982 Verordnungen ein, die zu den möglichen Verursachern neben Isocyanaten, Platinsalzen, Tieren und Insekten manche Dämpfe und Stäube zählten. Bereits um das Jahr 2000 hatten einige Arbeiter erfolgreich beträchtliche Schadensersatzforderungen für durch Arbeit hervorgerufenes Asthma, zum Beispiel durch Mehl und chemische Desinfektionsmittel hervorgerufen, eingeklagt.

Ähnliche Sorgen über die allergene Natur ihrer Produkte bereiteten auch der Kosmetikindustrie im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts Probleme. Das zwang die Branche, neue Wege zu beschreiten und führte zu Gerichtverhandlungen, bei denen es um hohe Summen ging. Das allergische Potenzial von Kosmetika war ebenfalls viel früher erkannt worden. Schon in den 1950er- und 60er-Jahren hatte man erkannt, dass Kosmetika allergische Dermatitis verursachen konnten (in der ICD 7 [703.6 und 245] und der ICD 8 [692.8]). Handbücher der klinischen Immunologie bezeichneten Lippenstifte und andere kosmetische Produkte als allergen und Haarfärbemittel und Shampoos wurden in verschiedenen Prozessen gegen Friseure als Allergieverursacher anerkannt. Unmittelbar nach dem Krieg wurden die Reaktionen auf Kosmetika (speziell auf Düfte) wissenschaftlich nicht nur durch die reizauslösende Natur ihrer chemischen Bestandteile erklärt, sondern auch durch idiosynkratische Unterschiede bei der Anfälligkeit. Die so vorgenommene Verlagerung der Verantwortung zog bedeutende rechtliche und finanzielle Folgen nach sich. In dem Prozess Ingham gegen Emes hob das britische Berufungsgericht ein Urteil wegen des einer Kundin entstandenen Schadens auf, weil sie versäumt hatte, ihren Friseur darauf aufmerksam zu machen, dass sie allergisch auf Haarfärbemittel reagieren würde.

Lordrichter Birkett kam zu folgendem Schluss: „Die Klägerin war so gesehen ganz und gar keine normale Person, und sie hat sich, im Wissen um ihre Besonderheit und in Ermanglung von dessen Offenlegung, selbst darum gebracht, sich auf die stillschweigend zugestandene rechtliche Garantie verlassen zu können.“ Ganz ähnlich machte ein Haushaltsratgeber bei Reaktionen auf Kosmetika jenen „empfindlichen Hauttyp“ für „alle medizinischen, Ehe- und Mutterschaftsprobleme“ verantwortlich, der „ungünstig auf eigentlich reine Kosmetika, auf das Eosin (roter Farbstoff) in Lippenstiften oder auf Parfüms in Seife oder Puder“ reagieren würde.

Diese Auffassung von Kosmetika erlaubte es der Industrie, sowohl die unmittelbaren materialbedingten Auslöser von Kosmetikallergien herunterzuspielen, als auch neue Produktreihen zu entwickeln, die angeblich für eine „empfindliche Haut“ geeignet oder „hypoallergen“ waren. Die Interessen der Industrie auf diese Art zu befördern und zu schützen, brachte einen immensen finanziellen Gewinn: Britische Verbraucher gaben um die Jahrtausendwende 5 Milliarden Pfund pro Jahr für Kosmetika aus, so das Women’s Environmental Network (Frauen-Umwelt-Netzwerk).

In den 1960ern und 70ern, als die Anzahl der synthetischen Düfte stieg, gründeten Mitglieder der Kosmetikindustrie das Research Institute for Fragrance Materials (Forschungsinstitut für Duftstoffe) und 1973 die International Fragrance Association (Internationale Duftvereinigung).

Damit wurde zum Teil auf das Auftreten einer schweren Form von Hyperpigmentierung in Japan reagiert. Insbesondere versuchte die Association die Sicherheit von Düften zu gewährleisten, indem sie Verordnungen und Richtlinien herausgab, die die Herstellung, den Einsatz und das Testen von Düften regeln und jene Ingredienzien kennzeichnen sollten, die nicht benutzt werden durften. Dennoch boten die von den Kosmetikunternehmen angewandten Werbestrategien immer häufiger Grund zur Klage.

In den 1980er- und 90er-Jahren beispielsweise begannen Organisationen wie Human Ecology Action League (Aktionsbund menschlicher Ökologie), eine amerikanische Hilfsgruppe für Patienten mit Umweltkrankheiten, die Bedeutung von Begriffen wie „hypoallergen“ infrage zu stellen, wenn sie auf Kosmetika angewandt wurden. Verschiedene unabhängige Studien enthüllten, dass es keine allgemeingültigen rechtlichen oder wissenschaftlichen Vorschriften zur Anwendung von Begriffen wie „natürlich“, „hypoallergen“ und dermatologisch getestet“ gab, auch wenn Verbraucher glaubten, diese Bezeichnungen würden unterstellen, das Produkt führe seltener zu Hautreaktionen. Trotz Bemühungen, die Praktiken der Kosmetikindustrie zu entlarven oder auf die Gefahren aufmerksam zu machen, die mit der wahllosen Anwendung gewisser Cremes und Parfüms in Verbindung gebracht wurden, und trotz der Versuche nationaler Aufsichtsbehörden – wie die des britischen Department of Trade and Industry (Handels- und Industriebehörde) oder der amerikanischen Food and Drug Administration (Nahrungsmittel- und Medikamentenbehörde) -, eindeutigere Richtlinien für den Einsatz von Begriffen wie ,hypoallergen“ in Marketingmaterial festzulegen, wich die Industrie generell genaueren Richtlinien für ihre Herstellungsprozesse und Werbestrategien aus. Im Ergebnis einiger Untersuchungen waren die Behauptungen auf den Produktetiketten weiterhin „verwirrend und potenziell irreführend“. Gelegentlich konnten die Folgen einer Kosmetikallergie tödlich sein. Im August 2000 starb eine Frau an einer anaphylaktischen Reaktion auf Haarfärbemittel.

Im Gegensatz zur Kosmetikindustrie konnte die Nahrungsmittelindustrie dazu gebracht werden, ihre Strategien bei Herstellung und Deklarierung von Nahrungsmitteln infolge der Allergiesorgen der Öffentlichkeit zu überdenken. In der Nachkriegszeit führten Berichte über mögliche Zusammenhänge von Kinderallergien und Kuhmilch zu Vorschlägen, das Stillen oder der Einsatz von Sojamilch könnten das Ansteigen von allergischen Krankheiten verhindern. Auch wenn der Zusammenhang zwischen Kuhmilch und Allergien oft bestritten wurde, dachten Nahrungsmittelhersteller über eine weniger allergene Formelmilch nach. So konnte in den frühen 1980er-Jahren der Schweizer Nahrungsmittelriese Nestle die Produktion einer teilweise hydrolysierten Formelmilch aufnehmen, die die Mastzellendegranulation reduzieren sollte.

Laut Dr. Pierre Guesry, damaliger medizinischer Leiter der Firma, wurde Nestles Interesse an Allergien von deren weltweitem Vormarsch motiviert sowie von der Annahme, dass allergische Krankheiten eines der größten ungelösten Ernährungsprobleme darstellen würden. Frühe medizinische Versuche deuteten an, dass die neue Formelmilch im Vergleich zu Vollmilch Keuchen und Ekzeme bei Kindern verringern würde und dass sie bei der Allergieprophylaxe ebenso effektiv wie Stillen sei, was jeweils nach sechs Monaten, einem Jahr und sieben Jahren überprüft wurde. Die neue Formelmilch von Nestle wurde in Europa als HA (HypoAllergen) vermarktet und in den Vereinigten Staaten als Goodstart. Sie trug dazu bei, dass das Unternehmen auf dem Gebiet der Ernährungsforschung zum Marktführer und zum größten Nahrungsmittelunternehmen der Welt wurde.

Auch wenn die Allergieforschung von Nestle von der Erkenntnis geleitet wurde, dass sich mit der Entwicklung hypoallergener Produkte für den globalen Markt der gesundheitliche Nutzen mit großen Profiten verbinden ließ, führten Sorgen über ernährungsbedingte Allergien bei der Nahrungsmittelindustrie generell zu einer Strategieänderung. Bis in die 1990er-Jahre lag der Hauptakzent der Gespräche zwischen Unternehmern, Ärzten, politischen Entscheidungsträgern und der Öffentlichkeit auf der Möglichkeit, dass Nahrungsmittelzusätze – künstliche Konservierungs- oder Farbstoffe – vielleicht mit Asthma sowie mit einer Reihe von Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern in Verbindung stehen könnten.

In den 1970ern und 80ern führten die Sorgen über den Einfluss von Nahrungsergänzungsmitteln, insbesondere bei Hyperaktivität, auf breiter Front zu einer Befürwortung von zusatzfreier Kost, wie die vom amerikanischen Kinderarzt und Allergologen Benjamin F. Feingold (1900-1982) vorgeschlagene. Mitte der 1990er-Jahre wuchsen jedoch in vielen westlichen Ländern die Sorgen dramatisch, als einige tragische Todesfälle durch anaphylaktische Reaktionen auf Erdnüsse vorkamen. Britische Tageszeitungen berichteten regelmäßig von Todesfällen durch Erdnuss- und Nussallergien, die auch in nordamerikanischen und europäischen Medizinzeitschriften
ausführlich besprochen wurden. Das Resultat war, dass Kliniker in aller Welt ein sofortiges Handeln forderten, damit die Gefahren der Anaphylaxie deutlicher würden. Sie ermunterten ihre Patienten auch zum Tragen von medizinischen Notfallarmbändern und forderten von der Nahrungsmittelindustrie, die Produkte eindeutiger zu beschriften, „sodass sogar der kleinste Anteil möglicherweise letaler Nahrungsmittelbestandteile genau bestimmt werden kann“.

Der Ruf von Öffentlichkeit und Ärzteschaft nach einer Reform wurde von den Richtlinien und Ratgeberbroschüren der staatlichen Überwachungsbehörden noch verstärkt. Mitte der 1990er-Jahre führten mehrere kanadische Schulämter Bestimmungen ein, die nicht nur das Risiko schwerer allergischer Reaktionen auf Erdnüsse und andere Nahrungsmittel in der Schule reduzieren, sondern „die gesetzliche Haftpflicht von Schulämtern“ minimieren sollten. In ähnlicher Absicht gründete das britische Department of Health’s Committee on Toxicity of Chemicals in Food, Consumer Products and the Environment (Abteilung des Gesundheitsausschusses für Toxizität von Nahrungsmittelchemikalien, Fertigprodukten und Umwelt) eine Arbeitsgruppe zur Erdnussallergie.

1998 legte der Bericht der Gruppe dar, dass der Anstieg an Erkrankungs- und Todesfällen durch Erdnussallergien entweder von einem allgemeinen Anstieg atopischer Krankheiten ausgelöst worden war oder vom verstärkten Erdnusskonsum schwangerer und stillender Mütter, was zu einer frühzeitigen Anfälligkeit geführt hätte. Aber letztlich war auch eine grundsätzliche Veränderung in der britischen Ernährungsweise dafür verantwortlich. Nach ihrer Einführung ungefähr zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs wurden Erdnüsse häufig zu einer Zutat in abgepackten Mahlzeiten. Und auch der steigende Verzehr indischer, chinesischer und mexikanischer Gerichte vergrößerte das Risiko einer Gefährdung und einer allergischen Reaktionsfähigkeit deutlich. Daher betonte die Arbeitsgruppe die Notwendigkeit weiterer Forschung. Sie schlug atopischen Frauen und solchen mit atopischen Partnern und Kindern vor, Erdnüsse während der Schwangerschaft und Stillzeit zu meiden, und befürwortete eine deutlichere Kennzeichnung von Lebensmitteln, um auf darin enthaltene Erdnüsse hinzuweisen.

Infolge der Forderungen von Konsumenten, Regierungen, internationalen Organisationen wie der WHO und Vereinen wie der Anaphylaxis Campaign (1994 von David Reading gegründet, dessen Tochter ein Jahr zuvor an einer Erdnussallergie gestorben war), sahen sich die Nahrungsmittelhersteller gezwungen, detailliertere Angaben über Zutaten zu machen und deutlicher auf das mögliche Vorhandensein von Nüssen und anderer Allergene in Produkten, die man in Geschäften und Restaurants kaufen konnte, hinzuweisen. Dementsprechend stellten britische Unternehmen wie J. Sainsbury PLC, Tesco, Marks & Spencer und Thorntons und amerikanische Firmen wie McDonald’s ihre eigenen Ratgeber her, händigten auf Nachfrage vollständige Listen mit Produkten aus, die womöglich Nüsse und andere problematische Zutaten enthielten, und stellten in ihren Geschäften Hinweistafeln auf. Diese Strategien waren einerseits zweifelsohne eine Hilfe für Allergiker, andererseits waren sie aber auch für die Nahrungsmittelindustrie von Vorteil. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wuchs der Markt für antiallergische Produkte, das heißt für Nahrungsmittel ohne potenzielle Allergene, beträchtlich. Weil die Konsumenten glaubten, Nahrungsmittelallergien wären stark auf dem Vormarsch, und sie auf Diäten, Körper(wunsch)bilder und gesunde Ernährung geradezu fixiert waren, belief sich 2002 allein der britische Markt für antiallergische Nahrungsmittel auf schätzungsweise 55 Millionen Pfund. Erwartungsgemäß wird er bis 2007 auf nahezu 140 Millionen Pfund ansteigen.

Wie diese Beispiele aus verschiedenen Wirtschaftbereichen zeigen, wurden während der letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts die Herstellungs- und Einzelhandelstaktiken und -praktiken nicht nur von den Sorgen über sich wandelnde Krankheits- und Gesundheitsstrukturen angetrieben, sondern auch von wirtschaftlichen Erwägungen. Oft ging es um sehr viel Geld, das mit Allergien verdient, aber auch verloren werden konnte. Gleichzeitig wurden neuartige Bestandteile der modernen Haushalts- und Industriewelt immer häufiger mit steigenden Allergietendenzen in Verbindung gebracht. Tatsächlich sahen viele in der Ausbreitung von Allergien ein deutliches Anzeichen für die Pathologie des Fortschritts, ein Merkmal der unvermeidlichen Kehrseite des westlichen Lebensstils in Industriestaaten. Die Medizin wurde von dieser Kritik nicht ausgenommen. Als die Anzahl der neuen pharmazeutischen Mittel überhandnahm und der Konsum von Medikamenten nach dem Zweiten Weltkrieg anstieg, spiegelten Medikamentenallergien die allgemeinen, von Heuschnupfen, Asthma und Ekzemen vorgegebenen epidemiologischen Verläufe.

1962 warnte der australische Nobelpreisträger und Immunologe Frank Macfarlane Burnet, dass die Medikamentenüberempfindlichkeit zum „Schreckgespenst der modernen Medizin“ werden würde. Im Verlauf der nächsten beiden Jahrzehnte verdeutlichten Studien der WHO, dass Medikamentenallergien sowohl in Industrie- als auch in Entwicklungsländern „an Bedeutung Zunahmen“. In ihnen wurden die vielgestaltigen immunologischen Vorgänge und unterschiedlichen medizinischen Symptome, die von Medikamenten wie Penizillin, Gentamycin, Analgetika und Tranquilizer hervorgerufen werden konnten, beschrieben. In den 1980er-Jahren war Penizillin in den Vereinigten Staaten der Hauptauslöser von Anaphylaxien. Schätzungsweise waren dort Penizillinallergien für 400 bis 800 Todesfälle jährlich verantwortlich. Natürlich war nicht unbekannt, dass Medizin Allergien erzeugen konnte. Die ursprüngliche Definition Clemens von Pirquets verdankt ihr Entstehen Beobachtungen idiosynkratischer Reaktionen auf die Serumtherapie, und die neue Auffassung von Asthma und Allergien in der Nachkriegszeit ist wohl auf die Einführung von Isoprenalin forte zurückzuführen. Der allmähliche Vormarsch von Medikamentenallergien als hauptsächliche iatrogene Krankheit bestärkte Ende des 20. Jahrhunderts – ebenso wie Kosmetik-, Erdnuss- und Reinigungsmittelallergien – die Überzeugung von den mannigfaltigen Gefahren moderner Zivilisation.