Die Naturmittel gegen der moderne Medikamente
Jede historische Zeitspanne wählt ihre eigenen Metaphern, um über den Körper zu sprechen.
Anne Marie Moulin
1948 veröffentlichte der schottische Arzt und Dramatiker James Lorimer Halliday (1897-1983) eine polemische Monografie über psychosoziale Medizin, in der er anprangerte, dass die zivilisierte westliche Gesellschaft moderne Bevölkerungen auf vielerlei Art krank machen würde. Halliday, der für seine Untersuchungen der Rolle von emotionalen Faktoren bei rheumatischer Arthritis und Asthma sowie als Gründungsmitglied der Psychosomatic Society (Psychosomatische Gesellschaft) Glasgows bekannt war, räumte ein, dass in Großbritannien seit Ende des 19. Jahrhunderts bessere Ernährung, Gesundheitsdienste und Hygiene zweifellos „zu einer immer besseren ,körperlichen Gesundheit’“ geführt hätten. Die damit einhergehende Zerstörung traditioneller Strukturen von Arbeit, Familie, Religion, Handel und Politik hätten jedoch im Gegenzug eine immer stärkere Verschlechterung der „sozialen Gesundheit“ vieler Gemeinden eingeleitet. Die soziale Auflösung und die Schaffung einer „kranken Gesellschaft“, so Halliday, lasse sich an abnehmender Fruchtbarkeit, einem Zunehmen psychosomatischer Leiden, steigenden Krankheitsraten und häufigeren Fehlzeiten am Arbeitplatz, steigenden Arbeitslosenzahlen, Jugendkriminalität, Klassenkriegen und regionalem Nationalismus, Massenauswanderung, dem Niedergang des Glaubens und der Popularität von eskapistischen Betätigungen wie Glücksspielen erkennen.
Auf der Suche nach Erklärungen für diese modernen Trends von Gesundheit und Glück kam Halliday zu zwei grundsätzlichen Schlüssen: erstens, dass „rein physische Ansätze“ zum Verständnis von Krankheiten unzureichend wären und durch psychologische Methoden unterstützt werden müssten. Und zweitens, da die Ursachen und Grundzüge der sozialen Desintegration bei allen Industrienationen auftreten würden, müsste man die „Wurzeln und das Wachstum dieser westlichen Gesellschaft, einschließlich der für sie charakteristischen Wirtschaftsform der Marktwirtschaft“ erkunden und hinterfragen.
Obwohl Halliday zuversichtlich war, dass eine soziale Reintegration möglich wäre und ein Rückgang der psychosozialen Leiden bewerkstelligt werden könnte, waren andere Autoren der Nachkriegszeit weniger optimistisch. Tatsächlich dienten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die steigenden Tendenzen bei allergischen Krankheiten, Krebs, Herz-erkrankungen und Stress ebenso wie sinkende Fruchtbarkeit in vielen Industrieländern dazu, bloßzustellen, dass vermeintlich künstliche westliche Lebensstile und moderne kapitalistische Wirtschaftssysteme die Gesundheit schädigen würden. Zusätzlich zu den Warnungen vor den Gefahren eines unkontrollierten industriellen Wachstums und unregulierten Handels riefen die Kritiker der modernen Zivilisation auch zu einem größeren persönlichen und politischen Widerstand gegen die zerstörerischen Kräfte der Moderne und zu einer Rückkehr zur Natur auf.
In diesem Artikel möchte ich darlegen, dass die Begriffe „Widerstand und Natur“ im späten 20. Jahrhundert nicht nur die Debatten über Ätiologie, Diagnose von und den Umgang mit Allergien prägten, sondern auch die Auseinandersetzungen über die fachliche Gestaltung von Allergieangeboten durchdrangen. Gleichzeitig soll gezeigt werden, dass die Allergie zu einer geeigneten Metapher für diverse physische, psychologische und soziale Gefahren wurde, denen sich Menschen in der Moderne ausgesetzt sahen.
Zurück zur Natur
In einem kurzen, aber provozierenden Artikel, den er im Februar 2004 in einer führenden Tageszeitung erscheinen ließ, hat der britische Thronfolger Prinz Charles einige der üblichen Verdächtigen namhaft gemacht, die sowohl für die Zunahme allergischer Krankheiten als auch für verschiedene andere biologische Störungen verantwortlich sein sollen. Laut Prinz Charles konnte die abnehmende Fruchtbarkeit der Menschen, durch Chemikalien ausgelöster Krebs, ein Geschlechtswechsel bei Fischen und das weltweite Volksgesundheitsproblem der Allergien auf die immer stärkere Gefährdung durch ungestestete Chemikalien in der Umwelt und der Nahrungskette zurückgeführt werden. Indem er auf deutliche Verbindungen zwischen Allergien, Luft-Verschmutzung und modernem westlichen Lebensstil hinwies, erneute Prinz Charles’ Rede von den medizinischen Folgen einer Umweltkrise ältere Kritiken an der Kehrseite der Moderne.
Gleichzeitig mobilisierte der Prinz die weitverbreiteten Ängste vor den Gefahren eines uneingeschränkten und unausgewogenen technologischen und sozialen Fortschritts, aber auch speziellere Befürchtungen vor einer Umweltverschmutzung mit pharmakologisch wirksamen Substanzen. Diese Befürchtungen waren in den 1990er-Jahren besonders deutlich von Befürwortern der „environmental endocrine hypothesis“ vorgebracht worden, denen zufolge das Versickern von Chemikalien aus Industrie und Landwirtschaft in die Umwelt die endokrinen Systeme von Mensch und Tier zerrütten und zu einer Reihe von Abnormitäten bei der Fortpflanzung, Immunologie und Entwicklung führen würden.4 Zu Beginn des neuen Jahrtausends fasste Prinz Charles diese Bedenken der Umweltschützer in eigene, warnende Worte:
Unsere Missachtung des zarten Netzes, das unsere Umwelt zusammenhält, führt zu ihrer Zerstörung […]. Faktoren wie Überernährung, Bewegungsmangel und Hygienebesessenheit, die mit der westlichen Gesellschaft in Verbindung gebracht werden, sowie unsere Gefährdung durch eine Unzahl von Chemikalien aus Produkten, deren Auswirkungen uns erst jetzt deutlich werden, arbeiten gemeinsam daran, unsere Abwehrkraft gegen die Umwelt zu schwächen. Unsere Kinder werden die Zeche bezahlen.
Prinz Charles betont in seinen Schlussfolgerungen zur Explosion allergischer Krankheiten in der modernen Welt zwei Hauptpunkte der von Öffentlichkeit und Ärzteschaft geführten Allergiedebatten. Erstens, den Mangel an verfügbaren herkömmlichen Medikamenten zur Befriedigung des immer größeren Patientenbedürfnisses. So forderte er, dass angesichts unzureichender spezialisierter Allergiedienste in Großbritannien, Ärzte und Krankenschwestern „mehr Hilfe“ bräuchten, „um Patienten mit schweren und zunehmend komplexen allergischen Beschwerden beraten und behandeln zu können“. Zum Zweiten befürwortete er die Bekämpfung von Allergien mit „eher traditionellen, natürlichen Methoden“ der Heilkunde. Indem er auf Patientenforderungen nach zusätzlicher Medizin sowie auf vielversprechende Ergebnisse klinischer Versuchsreihen zur Akupunktur, Homöopathie, Phytotherapie und zum kontrollierten Atmen bei der Asthmabehandlung Bezug nahm, behauptete Prinz Charles, dass, wenn Prävention Vorrang bekäme, die Entwicklung einer ganzheitlichen Allergieauffassung „keine großen zusätzlichen Kosten bedeuten müsse“, sondern im Gegenteil wohl zu einer Verminderung künftiger sozialer und wirtschaftlicher Belastungen durch Allergien führen würde.
Prinz Charles’ Beurteilung der von Allergien verursachten Probleme wurde wohl von epidemiologischen Erkrankungs- und Sterblichkeitsraten durch Asthma, Heuschnupfen und Ekzeme motiviert und stark beeinflusst. Zusätzlich wurden seine Betrachtungen aber auch von der populären Kritik an der modernen Konsum- und Industriegesellschaft geprägt, die bereits in Hallidays Schriften auftauchte und die in der Folgezeit von der Gegenkultur der 1960er-Jahre noch gefördert worden war. So wiederholte Prinz Charles’ Rede von den Gefahren der modernen Zivilisation die traditionellen Sorgen über den krank machenden Fortschritt und in seinem flammenden Appell für eine Rückkehr zur Natur spiegelte sich genau jene „körperorientierte, antiindustrielle und globale Version einer Umweltsicht“, die in den Jahrzehnten direkt nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden war. Wie Roy Porter und andere dargelegt haben, spielten die Befürworter von Naturheilverfahren in der Nachkriegszeit, auch zum eigenen Nutzen, eine wichtige Rolle bei der romantischen Verklärung einer einfacheren, weniger verschmutzten Vergangenheit als Modell für zukünftige Entwicklungen: „Die Attraktivität der modernen alternativen Medizin besteht eindeutig darin, dass Krankheitsauffassungen mit der Industriegesellschaften entgegengebrachten Unzufriedenheit und Kritik verknüpft werden können.
So werden nostalgische Fantasien von goldenen Zeitaltern der Gesundheit heraufbeschworen und der Weg zurück zur Natur über Kräuterarzneien, natürliche Heilmethoden, Spiritualismus, Jogging und Ginseng gesucht.“ Daher spiegelte Prinz Charles’ leidenschaftlicher Appell, gegen die verderbliche Ausbreitung moderner Lebensstile Widerstand zu leisten und sich um eine ausgewogenere und besser abgestimmte Heilkunde zu bemühen, nicht nur größere politische Anstrengungen, die Prozesse der Umweltzerstörung umzukehren und das ökologische
Ungleichgewicht zu beseitigen, sondern auch die zeitüblichen psychologischen und geistigen Bestrebungen nach globaler Harmonie und persönlichem Heil.
Natürlich war man sich der Unlogik der Zurück-zur-Natur-Träumereien der Nachkriegszeit bewusst, auch wenn sie weitergeträumt wurden. In den späten 1950er- und frühen 1960er-Jahren hatte zum Beispiel der Mikrobiologe Rene Dubos überzeugend vor dem Glauben an die Möglichkeit einer unkritischen Verwerfung der Moderne und einer uneingeschränkten Rückkehr zum Naturzustand gewarnt:
Ein Gleichgewicht ist nie von langer Dauer und bestenfalls trügerisch, denn das Wort „Natur“ bezeichnet keine definierbare und beständige Entität. Sieht man sich das Leben an, dann gibt es nicht einfach die eine Natur, es gibt nur Verknüpfungen von Zuständen und Umständen, die von Ort zu Ort und Zeit zu Zeit verschieden sind.
Mit dem seiner Vorstellung von ökologischer Anfälligkeit eigenen Historizismus mahnte Dubos zugleich vor utopischen Visionen einer zukünftigen körperlichen und geistigen Gesundheit: Ob sie nun medizinisch oder politisch sind, Utopien beziehen sich, wie bereits ausgeführt, stets auf eine statische Weitsicht. In Wirklichkeit sind Gesellschaften jedoch niemals statisch. Nichts hat Bestand in der Welt – Menschen ändern sich und ebenso ihre Probleme. Natürlich können wir ein „neues Artikel der Medizingeschichte“ erwarten, aber dieses Artikel wird wahrscheinlich genauso mit Krankheiten angefüllt sein, wie seine Vorgänger. Die Krankheiten werden nur andere sein als in der Vergangenheit.
Einige Jahre später fanden Dubos’ beredete Bitten um eine dynamischere und historisch sensiblere Interpretation ökologischer Beziehungen Unterstützung in Ulrich Becks Kritik an den „naturalistischen Trugschlüssen der Umweltbewegung“. Auch wenn er die Verlockung einer Rückkehr zur Natur durchaus erkennen konnte, bestand Beck darauf, dass die modernen Vorstellungen von Natur an sich zutiefst problematisch und gesellschaftlich geformt wären: „Daher ist sogar die Natur nicht natürlich, sondern vielmehr Konzept, Norm, Erinnerung, Utopie, Gegenbild […]. Es gibt massenhaft Erinnerungen an die Tatsache, dass die Bedeutungen von „Natur“ nicht auf Bäumen wachsen, sondern rekonstruiert werden müssen.“ Für Dubos und seine Nachfolger lag die Lösung dieser Krise ihres Fachgebietes darin, eine ausgewogenere, evolutionäre und ökologische Sicht zu befürworten, der zufolge Gesundheit und Krankheit als Ergebnisse eines im steten Wandel befindlichen Gleichgewichts innerer und äußerer Umgebungen angesehen werden müssten. Unter Bezugnahme auf die im 19. Jahrhundert formulierten Lehrmeinungen des französischen Physiologen Claude Bernard (1813-1878) und auf die hippokratischen Auffassungen von der universellen Wechselwirkung, begriff Dubos Gesundheit, Überleben und Eignung in erster Linie als die Fähigkeit, „dem Einfluss der Außenwelt Widerstand entgegensetzen zu können“. Dubos zufolge spielten historische und umweltbedingte Faktoren, aber auch die unmittelbare materielle Umgebung eine deutliche Rolle bei der Festlegung der Widerstandskraft oder Anpassungsfähigkeit des Einzelnen:
In den meisten Fällen wird die von irgendeinem Stimulus hervorgerufene Wirkung durch die biologische und soziale Geschichte der Gruppe und die bisherige Erfahrung jedes Einzelnen bestimmt. Mit anderen Worten, die Art der Reaktion ist nicht nur vorherbestimmt von der formenden Wirkung selektiver evolutionärer Kräfte, sondern auch von den Unfällen des eigenen Lebens – von allergischen Idiosynkrasien bis hin zu erworbenen Verhaltensmustern […]. Die Auswirkungen der physischen und sozialen Umwelt können ohne die Kenntnis des individuellen Lebenslaufs nicht verstanden werden.
Dubos’ ausdrückliche Bezugnahme auf die Allergologie als Gebiet, auf dem „Kundgebungen der Vergangenheit“ eindrucksvoll am lebenden Wesen nachgewiesen werden könnten, und seine bewusste Verknüpfung biologischer und psychologischer Phänomene, lässt eindeutig Charles Richets Vorstellung von parallelen humoralen und psychologischen Persönlichkeiten nachklingen. Ebenso überführte sie wesentliche Bestandteile von Clemens von Piquets weitgefasster Allergie-Definition als eine Form veränderter biologischer Reaktionsfähigkeit in die Nachkriegszeit.
Gleichzeitig verschleierten Dubos’ Worte die zunehmend hitzig geführten Auseinandersetzungen zur Bedeutung von Allergien für die Moderne. Da sie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf dem Vormarsch waren und sich Sorgen vor Umweltzerstörungen vertieften, wurden Allergien zu einem wesentlichen Thema in politischen Debatten über die, wie Halliday und viele andere Autoren behauptet hatten, krank machende Wirkung der modernen Gesellschaft. Die Allergie war ein leicht zu erkennendes und wissenschaftlich bestätigtes Anzeichen für eine anhaltende Zerstörung natürlicher Umwelt, aber auch ein markantes Sinnbild für physische und psychologische Unzufriedenheiten mit Strukturen und Werten des modernen, von Industrie und Handel geprägten Lebens und für den Widerstand dagegen. Dabei wurden steigende Allergievorkommen zu einem Hauptthema bei den Auseinandersetzungen zur Verteilung von begrenzten staatlichen Mitteln und zu einem Streitpunkt im Konflikt zwischen konventioneller westlicher Biomedizin und alternativen ganzheitlichen Gesundheits und Gesellschaftsansätzen.