Globale Allergie
Die deutlichere Sichtbarkeit allergischer Krankheiten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und das wachsende Bewusstsein ihres sozialwirtschaftlichen Einflusses in Industrie- und Entwicklungsländern ließ sich auf eine entstehende internationale Sicht auf Krankheiten in der Nachkriegszeit, insbesondere aber auf globale Forschung, Überwachung und Ausbildungsprogramme der WHO zurückführen. Nachdem sie zwei Jahre lang als eine Interimskommission tätig gewesen war, wurde die WHO 1948 formell gegründet, um versuchsweise verschiedene internationale Gesundheitsinitiativen zusammenzufassen. Ihre Wurzeln lagen in den internationalen Gesundheitskonferenzen des 19. Jahrhunderts und in der Kooperation internationaler Gesundheitsorganisationen des frühen 20. Jahrhundert, wie der des Pan American Sanitary Bureau (Panamerikanische Gesundheitsabteilung), des Office International d’Hygiene Publique (Internationales Amt für das öffentliche Gesundheitswesen) und der League of Nations Health Organisation (Bund der Gesundheitsorganisationen der Nationen), die sich alle mit der Kontrolle von Infektionskrankheiten oder mit der Festsetzung internationaler Standards befasst hatten.
In der ersten Zeit ging die WHO ebenso wie ihre Vorläufer die Kontrolle von Krankheiten direkt an und konzentrierte sich auf die Identifikation und Ausrottung bestimmter endemisch und epidemisch auftretender übertragbarer Krankheiten wie Malaria, Tuberkulose, Pocken, Typhus und Grippe. Seit den frühen 1960er-Jahren wandte die WHO jedoch zur Vermeidung und Behandlung von Krankheiten eine andere Strategie an, die auf intensivere Forschungsprogramme – nicht nur am Sitz der WHO in Genf, sondern auch in Ablegereinrichtungen in der ganzen Weltsetzte. Bezeichnenderweise widmete sich die erste 1963 ins Leben gerufene zentrale Forschungseinrichtung der Immunologie.
Auf die Gründung der Immunologieabteilung der WHO folgte unter ihrem ersten Leiter Howard Goodman ein Bericht von fünf Forschungsgruppen, die 1962 vom Generaldirektor der WHO aufgefordert worden waren, „den gegenwärtigen Wissensstand des Gebietes zusammenzufassen und Vorschläge für künftige Forschung zu machen“. Der Bericht räumte ein, dass Immunologie „eines der sich am schnellsten entwickelnden Medizingebiete“ wäre, was weitreichende Folgen für viele Gebiete der biomedizinischen Forschung und klinischen Praxis haben würde, und lieferte eine Vorlage für die Entwicklung von Forschungsprogrammen für die Immunprophylaxe, Immunpathologie, Transplantationsimmunologie und Immunchemie. Die Erforschung von Allergien und Überempfindlichkeiten war ein wichtiger Tagesordnungspunkt auf der Agenda der WHO und das nicht nur, weil sich die WHO verpflichtet fühlte, immunpathologische Vorgänge aufzuklären, sondern auch wegen der erkannten Verbindungen zwischen Allergien und Immunisierung.
Im Verlauf der folgenden Jahrzehnte verstärkte sich das Interesse der WHO an Allergien noch und die Immunologieabteilung trug entschieden zum klinischen und epidemiologischen Verständnis allergischer Krankheiten, zur Ausbildung von Allergologen, zur internationalen Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern und Klinikern und zur Allergieklassifizierung bei.
Zusätzlich zu einer ersten Zusammenfassung diverser immunologischer Forschungsansätze stellte die WHO auch Forschungsgruppen zusammen, um über die Erfordernisse zur Ausbildung von Immunologen nachzudenken und um die Stellung und den möglichen Anteil der Immunologie am Krankenhausalltag festzusetzen. Beide Male war die Allergie in den Berichten und Empfehlungen der Expertenausschüsse stark präsent. Auf einer 1966 in Genf abgehaltenen Tagung zur Immunologieausbildung im Medizinlehrplan hob Dr. A. D. Ado von der Physiologieabteilung des Zweiten Moskauer Medizininstitutes die weltweit unterschiedliche Allergologieausbildung hervor und betonte die wichtige Rolle von Allergien in vielen Bereichen der klinischen Praxis, einschließlich der Rheumatologie, Pädiatrie, Transplantationsimmunologie, Atemwegsmedizin, Dermatologie und Hals-, Nasen-, Ohrenmedizin.
Der Ausschuss griff Ados Besorgnis über die Ausbildung auf und wies auf den generellen Mangel an Ausbildungsmöglichkeiten für die Immunologie und Allergologie sogar in Ländern wie Großbritannien und den Vereinigten Staaten hin, die doch „relativ gut mit Immunologen versorgt“ wären. Außerdem wurden Mindestanforderungen für Immunologielehrgänge festgelegt, einschließlich der Erfassung der von Antikörpern sowie von Zellen herbeigeführten Überempfindlichkeitsreaktionen. Zusätzlich war dem Bericht des Ausschusses ein Memorandum von der British Society for Immunology (Britische Immunologiegesellschaft) beigefügt, das besonderen Wert darauf legte, das immunologische Reaktionen „einer ganzen Reihe von Erkrankungen wie zum Beispiel Autoimmunkrankheiten, Allergien und anderen Überempfindlichkeiten“ zugrunde lägen. Entscheidend war, dass der potenzielle Nutzen von Allergieuntersuchungen für die klinische Praxis 1971 von einer Gruppe von Wissenschaftlern der WHO betont wurde, die sich mit klinischer Immunologie befassten. Dabei war einmal mehr die Bedeutung von Allergien für verschiedene Wissenschaftsgebiete zutage getreten, einschließlich der Überempfindlichkeit gegen ansteckende Organismen, der atopischen Allergie, der verzögerten Überempfindlichkeit und der Medikamentenallergien.
Die WHO reagierte auf diese Empfehlungen zur Ausbildung und Forschung auf den Gebieten von Immunologie und Allergologie auf unterschiedliche Weise. Zunächst wurden Immunologieforschungs- und -ausbildungszentren in Ibadan (1964/65), Säo Paolo (1966), Lausanne (1967), Singapur (1969) und Mexiko (1970) eingerichtet.70 Diese Zentren, die teilweise von der WHO finanziert wurden, sollten Ausbildungsmöglichkeiten zur Immunologie in Entwicklungsländern zur Verfügung stellen und Forschungen anstoßen, die sich speziell den Gesundheitsproblemen vor Ort widmen sollten. Gleichzeitig unterstützte die WHO spezielle Forschungs- und Ausbildungsprogramme andernorts. In den 1960er- und 70er-Jahren bewilligte die WHO kleine Zuschüsse für immunologische und allergologische Projekte, Trainingskurse und Forschungsstipendien in London, Athen, Ägypten und Madrid. Und sie finanzierte Alain de Wecks Untersuchung der Epidemiologie allergischer Krankheiten sowie die Verfügbarkeit klinischer Allergiedienste in Entwicklungsländern. In einem Memorandum zu dem Wecks Beiträgen von 1976 betonte Giorgio Torrigiani (Howard Goodmans Nachfolger als Leiter der WHO-Immunologieabteilung), auch wenn sich die Immunologieabteilung stets sehr für allergische Krankheiten interessiert habe, sei die Zeit für ein effektives Eingreifen der WHO noch nicht reif gewesen. Mitte der 1970er-Jahre hätte sich jedoch, so Torrigiani, die Situation geändert und „neue Erkenntnisse der elementaren Immunologie können nun auf dieses Gebiet angewandt werden, das in vielen Ländern ein großes Problem für die Volksgesundheit darstellt“.
Zusätzlich zur Finanzierung von allergologischer Forschung und Ausbildung trug die WHO auch zur Schaffung und zum Unterhalt eines aktiven internationalen Netzwerkes von Allergologen und Immunologen bei, womit sie die Entwicklung der Wissenschaft auf internationaler Ebene förderte, was sich erstmals im frühen 20. Jahrhundert in Form von übernationalen Abhandlungen und Zusammenkünften bemerkbar gemacht hatte. 1966 gründete die WHO ein Joint Liason Committee for Immunology (Gemeinschaftlicher Verbindungsausschuss für Immunologie) mit dem Conseil des Organisations Internationales des Sciences Medicales (Rat der internationalen Organisationen der Medizinwissenschaften) (CIOMS). Um die internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Immunologie zu erleichtern, gab die Kommission regelmäßig ein Rundschreiben heraus, das Konferenzen und Trainingskurse ankündigte, Informationen über vergangene und gegenwärtige Vorgänge weitergab und über die Tätigkeit der Immunologieabteilung der WHO und seiner Zweigstellen unterrichtete.
Drei Jahre später unterstützte die WHO die Bildung einer International Union of Immunological Societies (Internationale Vereinigung immunologischer Gesellschaften) (IUIS), die die Zusammenarbeit der existierenden nationalen Körperschaften befördern und die Gründung neuer nationaler Gesellschaften erleichtern sollte. Durch die Organisation internationaler Kongresse und die Schaffung und Aufrechterhaltung einer weltweiten Kommunikation schufen IUIS, WHO und CIOMS gemeinsam eine wichtige Grundlage für die Entwicklung dessen, was Bernard Cinader viele Jahre später als die „globale Familie“ von Immunologen und Allergologen bezeichnen sollte.
Es ist wohl kein Zufall, dass die Errichtung eines globalen Netzwerkes von Immunologen genau in dem Moment in Angriff genommen wurde, als Wissenschaftler wie Niels Jerne und Frank Macfarlane Burnet eine Netzwerktheorie des Immunsystems entwickelten.
Die ganzen 1960er- und 70er-Jahre hindurch versuchten die IUIS und WHO auch sensible fachspezifische Sorgen anzusprechen, die die Allergologen seit der Schaffung und Ausweitung von Allergiekliniken in den 1910er- und 20er-Jahren bedrückt hatten. Wie Alain de Weck in seinem Bericht über die Gründung von Forschungs- und Ausbildungsprogrammen zur Allergologie hervorgehoben hatte, war in vielen Ländern eines der Haupthindernisse einer fachlichen Weiterentwicklung „das Fehlen der Anerkennung durch die nationalen Behörden“, ein Problem, den der Mangel an notwendigen Ausrüstungen und Techniken für die „angemessene Standardisierung der Allergenextrakte“ noch verschlimmerte. Solche Sorgen waren nicht nur auf Entwicklungsländer beschränkt und hatten, wie ich bereits im vorigen Artikel ausgeführt habe, bereits in Großbritannien und den Vereinigten Staaten die Anerkennung der Allergologie als Spezialgebiet verhindert.
1964 wurde ein Unterausschuss der 1951 gegründeten International Association of Allergology (Internationale Allergologievereinigung) gegründet, der speziell die Voraussetzungen für eine Spezialisierung erkunden sollte. Drei Jahre später unterbreitete der Unterausschuss einige elementare Grundforderungen für die Ausbildung von Spezialisten. Besonderes Gewicht wurde dabei auf die Einführung eines Beglaubigungsverfahrens gelegt, das auf ein zweijähriges Ausbildungsprogramm über die „wissenschaftlichen Grundlagen des Spezialfaches sowie der klinischen Praxis von Allergien“ folgen sollte. Führende Allergologen vertieften die Diskussion über diese Themen auf dem 1970 in Florenz abgehaltenen Internationalen Allergiekongress. Auch wenn die unmittelbaren fachlichen Schwierigkeiten noch nicht gelöst waren, schienen sich doch viele Allergologen bereits eine besondere Strategie zur Erleichterung der allgemeinen Anerkennung von Allergien als Spezialgebiet zu eigen gemacht zu haben, namentlich die Annahme der Bezeichnung „Klinische Immunologie und Allergologie“ für Abteilungen und Gesellschaften. Wenn dadurch auch die Gefahr bestand, dass das Gebiet der Allergologie von anderen klinischen Immunologen vereinnahmt werden könnte, gab es doch den Allergologen die Möglichkeit, ihre klinischen Rechte zu entwickeln und ihren fachlichen Status zu stärken.
Nach fast sieben Jahren konstruktiver internationaler Tätigkeit veröffentlichte die WHO im Dezember 1969 einen ausführlichen Überblick über ihre Immunologieprogramme. Auch wenn sich der Überblick hauptsächlich auf Entwicklungen bei der Diagnose und Behandlung von übertragbaren Krankheiten konzentrierte, war es offenkundig, dass die WHO ebenfalls internationale Tagungen und Zusammenarbeit bei Forschungsprojekten auf den Gebieten der Immunpathologie und Immundiagnose, einschließlich der Allergologie angeregt hatte. Im Verlauf der folgenden Jahrzehnte legte die WHO noch größeren Nachdruck darauf, wie wichtig es wäre, den Einfluss von Allergien auf die Volksgesundheit zu erkennen und „ein kooperatives internationales Programm“ zu beschließen. Dementsprechend veranstalteten WHO-Mitglieder 1978 und 1984 Tagungen zur Epidemiologie, zu sozialwirtschaftlichen Belastungen und zur Vorsorge gegen allergische Krankheiten, schickten Fragebögen an Allergologen in der ganzen Welt, um das Ausmaß von Allergien und die Versorgung mit Allergologen abschätzen zu können, und versuchten die Standardisierung epidemiologischer Utensilien und Definitionen zu befördern.
Um 1980 wurde die Allergologie in das globale mittelfristige Immunologieprogramm der WHO aufgenommen. So wurde betont, wie wichtig eine genauere Bestimmung des Ausmaßes allergischer Krankheiten in Entwicklungsländern und detailliertere Pläne zum Umgang mit Allergien in Zusammenarbeit mit den regionalen Zentren waren.
1983 steckte sich ein weiteres globales Programm ein klares Ziel: Bis 1989 wollte die WHO das globale Überhandnehmen allergischer Krankheiten eingeschätzt und Empfehlungen zu den „auf dem Grundniveau medizinischer Versorgung anwendbaren Präventiv- und Heilmaßnahmen“ ausgesprochen haben.
So lieferte die WHO einerseits einen Rahmen für das wachsende klinische Wissen und die öffentliche Wahrnehmung der Verbreitung von Allergien in den Nachkriegsjahren und trug andererseits zur Klassifikation allergischer Krankheiten und zur Verbreitung der wissenschaftlichen Auffassung von den daran beteiligten immunologischen Vorgängen bei. 1946 hatte die Interimskommission der WHO die Verantwortung für die Erstellung und Veröffentlichung der International Classification of Diseases (Internationale Klassifikation von Krankheiten) (ICD) übernommen, die 1900 erstmals als International List of Causes of Death (Internationale Liste der Todesursachen) weltweit anerkannt worden war. 1948 veröffentlichte die WHO eine 6., überarbeitete Auflage der ICD. Zusätzlich zur Bereitstellung eines Standards zur Kontrolle von Erkrankungs- und Sterblichkeitsraten, trat die 6., überarbeitete Auflage auch für eine größere internationale Zusammenarbeit sowie für die Bildung nationaler Ausschüsse zum Sammeln von Daten ein, was „eine neue Ära der internationalen Lebenserwartungs und Gesundheitsstatistiken“ anbrechen ließ.
Infolge der weiterhin existierenden Theorien über die hormonelle Grundlage von Asthma und anderen Allergien, wie sie Erwin Pulay und Hans Selye vorgelegt hatten und die auch von der WHO anerkannt worden waren, wurden sowohl in der 6. (1948) wie 7. (1955) überarbeiteten Auflage der ICD allergische Krankheiten in einem Abschnitt über endokrine, metabolische und ernährungsbedingte Krankheiten aufgenommen, worunter auch Schilddrüsenstörungen, Diabetes mellitus und Vitaminmangelerkrankungen fielen. Heuschnupfen (240), Asthma (241), angioneurotisches Ödem (242), Urtikaria (243), aller-gische Ekzeme (244) und eine Reihe weiterer Leiden wie allergische Konjunktivitis und verschiedene allergische Reaktionen auf Kosmetika, Tierschuppen, Medikamente, Federn, Staub, Nahrungsmittel und natürliche Auslöser (245) bekamen eigene Listennummern zugewiesen.
In Diskussionen, die schließlich 1965 zur 8., überarbeiteten Auflage der ICD führten, bezweifelte das Australian Medical Statistics Committee (Australischer Ausschuss für Medizinstatistik) die Notwendigkeit einer separaten Unterabteilung für allergische Krankheiten (240-245) mit dem Argument, dass Versuche, zwischen allergischem Ekzem und Dermatitis zu unterscheiden oder zwischen allergischer Bronchitis und von Asthma begleiteter Bronchitis, unrealistisch wären. Der australische Ausschuss empfahl daher die Abschaffung der Unterabteilung und die Einordnung der einzelnen allergischen Krankheiten anhand der betroffenen Organsysteme. Nach einer entsprechenden Erörterung unterstützte die WHO die australischen Änderungsvorschläge, und als 1968 die 8., verbesserte Auflage verwirklicht wurde, waren die verschiedenen allergischen Krankheiten „entsprechend dem befallenen Körpersystem neu zugewiesen“ worden: Asthma und Heuschnupfen (507) den Krankheiten des Atemwegssystems; Ekzeme (691, 692) und Urtikaria (708) den Erkrankungen der Haut und des Unterhautgewebes; allergische Kolitis (561) den Erkrankungen des Verdauungssystem; allergische Konjunktivitis (360) den Entzündungskrankheiten des Auges.
Durch die so vorgenommene Zerstückelung des Gebietes der Allergologie hat die 8., verbesserte Auflage des ICD vielleicht unabsichtlich dazu beigetragen, die Anstrengungen jener Allergologen zu behindern, die versuchten, ein von der Atemwegsmedizin, Pädiatrie, Hals-, Nasen- und Ohrenmedizin und Dermatologie unabhängiges Spezialfach zu errichten.
Mit der Aufgabe, Krankheiten zu statistischen Zwecken zu kategorisieren, fühlte sich die WHO auch verpflichtet, die an immunologischen Krankheiten beteiligten chemischen und zellulären Vorgänge zu klären. Damit sollten ausdrücklich Mittel gegen die globale Ausbreitung von Allergien gefunden, die Rolle von Allergien bei Infektionskrankheiten aufgeklärt und die Klassifizierung von Überempfindlichkeiten verfeinert werden. Versuche, die Überempfindlichkeit anhand der zugrunde liegenden Mechanismen und klinischen Merkmale zu klassifizieren, waren nicht neu. 1923 hatten Robert Cooke und Arthur Coca vorgeschlagen, hauptsächlich zwischen „normalen“ Formen der Überempfindlichkeit (z. B. der Serumkrankheit), die in großem Ausmaß in der Bevölkerung Vorkommen, und „abnormalen“ Formen von Überempfindlichkeit, die weniger häufig sind und durch einen „speziellen Vorgang“, etwa durch besondere Antikörper, zustande kommen, zu unterscheiden. Laut Cooke und Coca fielen unter die abnormalen Formen, für die sich die klinischen Allergologen sehr interessierten, Anaphylaxie, Überempfindlichkeit bei Infektionen und Atopie, die alle verschiedene klinische und pathologische Züge aufweisen würden.
In den 1940er- und 50er-Jahren baute Arnold Rice Rieh diese These aus und teilte Überempfindlichkeit in vier Typen auf: Anaphylaxie auf Fremdeiweiße, die von speziellen Antikörpern im Serum ausgelöst wird; das Arthus-Phänomen, eine Form der intensivierten und verlängerten lokalen Reaktion auf Fremdeiweiße; „Pollentypüberempfindlichkeit“ oder atopische Empfindlichkeit in Verbindung mit der Pathogenese von Asthma, Ekzemen und Heuschnupfen; der „Tuberkulintyp von Überempfindlichkeit“, der hauptsächlich von Zellen und nicht von Antikörpern ausgelöst wird.90 Rieh vermutete insbesondere, dass die ersten drei Arten viel gemein hätten, da die Vorgänge, durch die sie Gewebeschäden hervorriefen, sich deutlich von denen bei der Tuberkulintyp-Überempfindlichkeit unterscheiden würden.
In der Nachkriegszeit erleichterte ein erneutes Interesse an den biologischen und biochemischen Charakteristika von immunologischen Reaktionen und an der klinischen Umsetzung immunologischen Wissens eine genauere Bestimmung von Überempfindlichkeit. Das einflussreichste und von Wissenschaftlern, Klinikern und internationalen Organisationen wie der WHO am häufigsten angewandte System wurde von den beiden britischen Pathologen P. G. H. Gell (*1914) und R. R. A. Coombs (*1921) entwickelt. In der ersten, 1953 veröffentlichten Ausgabe von Clinical Aspects of Immunology kritisierten Gell und Coombs die ungenaue Anwendung des Begriffes Allergie und befürworteten eine Rückkehr zu der ursprünglich von Clemens von Pirquet eingeführten „stabilen semantischen Grundlage“, die Allergie, Immunität und Überempfindlichkeit vereinte. In diesem Zusammenhang deuteten sie wiederholt an, damit allergische Reaktionen von dem neuen immunologischen Wissen profitieren könnten, sollten sie nicht einfach wie üblich „als klinisches Syndrom, als anatomische oder biochemische Reizung“ eingeordnet werden, sondern anhand der daran beteiligten immunologischen Prozesse. Dementsprechend schlugen Gell und Coombs vier Grundarten von „Krankheiten zugrunde liegenden allergischen Reaktionen“ vor.
Die Typ-I-Reaktionen (gemeinhin anaphylaktische oder unmittelbare Überempfindlichkeit genannt) wurden laut Gell und Coombs von pharmakologisch aktiven Substanzen (z. B. Histamin) ausgelöst, die von Zellen ausgeschüttet würden, die durch eine besondere Klasse von als Reagin- oder atopisch bezeichneten Antikörpern passiv sensibilisiert worden wären. Auch wenn die genaue Natur der atopischen Antikörper nur schwer fassbar wäre, wäre diese Form von Überempfindlichkeit verantwortlich für Heuschnupfen, Asthma und bestimmte Formen von Nahrungsmittelallergien und Hautreaktionen. Typ-II-Reaktionen (auch zytolytisch oder zytotoxisch genannt) würden von Antikörpern ausgelöst, die entweder mit Antigenen der Zellenoberfläche reagierten oder mit Antigenen, die sich nachträglich an die Zellen anhefteten. Oft von der Alexinaktivierung verursacht, wurden Transfusionsreaktionen, Hämolyse bei Neugeborenen, „autoallergische Krankheiten“ und möglicherweise auch die akute Nephritis infolge einer Streptokokkeninfektion als Typ-II-Reaktionen aufgefasst. Die dritte Kategorie von durch Antikörper verursachter Überempfindlichkeit setzte sich zusammen aus den Typ-III-Reaktionen wie der Arthus-Reaktion und der Serumkrankheit. In diesen Fällen, so wurde angenommen, würden Antigene mit Antikörpern entweder im Blutkreislauf oder in Gewebezwischenräumen reagieren, um Verbindungen zu bilden, die für die „Zellen toxisch“ wären.
Die letzte Form von Überempfindlichkeit, von Gell und Coombs als Typ IV bezeichnet, die verzögerte oder Tuberkulintyp-Überempfindlichkeit, wurde nicht von Antikörpern verursacht, sondern von sensibilisierten weißen Blutkörperchen. Im frühen 20. Jahrhundert war festgestellt worden, dass zwischen der Tuberkulinanfälligkeit und anderen Überempfindlichkeitsreaktionen Unterschiede sowohl bei der Reaktionsgeschwindigkeit als auch bei der Übertragbarkeit mittels Serum bestanden, und dieser Unterschied war in den meisten Klassifikationen berücksichtigt worden. Merrill W. Chase (1905-2004) hatte, als er in den 1940er-Jahren zusammen mit Karl Landsteiner (1868-1943) am Rockefeiler Institute for Medical Research (Rockefeller-Institut für Medizinforschung) tätig war, nachweisen können, dass verzögerte Anfälligkeit eher durch die weißen Blutkörperchen sensibilisierter Tiere übertragen werden konnte als durch Antikörper. Die Erkenntnisse von Chase klärten eine ganze Anzahl von Fragen über bei Tuberkulinreaktionen beteiligte Vorgänge und die Entwicklung von Immunität gegen bestimmte Krankheiten. Sie stellten eine experimentelle Grundlage zur Klassifizierung von Überempfindlichkeit zur Verfügung, die deutlicheren Nachdruck auf immunologische Prozesse sowie auf klinische Zustände legte. Gestützt auf allgemeine pathologische und immunologische Merkmale, legten Gell und Coombs nahe, dass eine verzögerte Überempfindlichkeit nicht nur bei Tuberkulose am Werke sei, sondern auch bei Kontaktdermatitis, Transplantatabstoßung und bei einigen autoallergischen und von Parasiten hervorgerufenen Krankheiten.
Auch wenn versucht wurde, die Klassifikation der Überempfindlichkeit entsprechend der immunologischen Vorgänge zu verfeinern, und auch wenn es hartnäckige Auseinandersetzungen über die Rolle von Antikörpern oder anderen humoralen Faktoren bei der verzögerten Überempfindlichkeit gab, wurde das von Gell und Coombs ersonnene Schema gemeinhin von Immunologen und Allergologen in aller Welt angenommen. Zwar trugen die vier von Gell und Coombs vorgeschlagenen Kategorien zweifellos zum Verständnis von einigen klinischen Symptomen der immunologischen Reaktionsfähigkeit bei, doch auch sie sind nicht frei von den bekannten Auseinandersetzungen über Terminologie und Bedeutung von Allergie.
Erstens: Ihre leidenschaftliche Bekräftigung der weitgefassten Definition Pirquets von der veränderten biologischen Reaktionsfähigkeit lief dem Begriff „Allergie“, wie ihn Wissenschaftler und Kliniker in der Nachkriegszeit verstanden, generell zuwider. Auch wenn Gell und Coombs der Ansicht waren, „Transplantationsallergie“ und „Autoallergie“ wären präzisere Benennungen als „Transplantationsimmunität“ und „Autoimmunität“, wurden die beiden letzteren Begriffe offensichtlich weithin akzeptiert. Viele Jahre später beklagte Coombs noch immer diese sprachliche Unsitte und verwies darauf, dass das Wort Autoimmunität „fehlkonstruiert, absurd und höchst irreführend“ wäre. Gells und Coombs’ Argumente wurden jedoch weitgehend ignoriert und in den folgenden Jahrzehnten wurde die Bedeutung des Begriffes „Allergie“ noch weiter eingeengt. In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wandten insbesondere die mit den steigenden Heuschnupfen-, Asthma- und Ekzemtendenzen befassten Wissenschaftler und Ärzte den Begriff .Allergie1 fast ausschließlich auf die Typ-I- oder atopischen Überempfindlichkeitsreaktionen an.
Zweitens: Gells und Coombs’ Klassifikation enthüllte die periodisch auftretende Unsicherheit über den Zusammenhang von Immunität und Überempfindlichkeit, die Clemens von Pirquet einst aufgebracht hatte. In die 2., 1968 herausgegebene Auflage ihres Buches fügten Gell und Coombs Diagramme der am Entstehen von Immununität beteiligten „allergischen Vorgänge“ ein (bezeichnet als Modell A, B, C und D), aber auch derjenigen, die zu einer Krankheit führen. Dabei spiegelten die für die Widerstandsfähigkeit des Wirtes verantwortlichen mutmaßlichen Vorgänge ziemlich genau die drei Formen von antikörpergestützter Abwehr wider, bei denen Serumfaktoren und sensibilisierte Zellen an der Zerstörung des eindringenden Organismus’ beteiligt sind. Beim vierten Reaktionstyp werden „aktiv allergisierte Zellen“ bei der Abwehr tätig. Indem sie ausdrücklich auf Parallelen zwischen den Reaktionen, die zu Gewebeschäden und jenen, die zu Immunität führen, hinwiesen, vereinheitlichten Gell und Coombs die Überempfindlichkeitsprozesse auf fast genau dieselbe Art wie 60 Jahre zuvor Pirquet. Obwohl für viele Autoren die Überempfindlichkeit oder Allergie weiterhin im Widerspruch zur Immunität stand und durch andere Mechanismen verursacht wurde, so fand die Auffassung, dass die Grundlagen von allergischen Reizungen und Immunität die gleichen wären, andernorts Unterstützung. Sie stütze die epidemiologische Annahme, dass statistisch gesehen allergische Krankheiten eher die Norm als die Ausnahme wären. In einem kurzen, 1961 herausgegebenen Allergie-Ratgeber merkte Kenneth C. Hutchin (1908-1993) an, dass „die Allergie der Immunität gegen Krankheiten verwandt“ wäre, und hob die „starke Ähnlichkeit zwischen ererbter Widerstandsfähigkeit gegen Krankheiten und erblichen Allergien“ hervor.
Wie ich im 6. Artikel darlegen möchte, ermutigten die gegen Ende des 20. Jahrhunderts erkannten Parallelen zwischen Überempfindlichkeit und Immunität hinsichtlich ihres möglichen Beitrags für das Überleben des Individuums oder der Spezies gelegentlich teleologische, wenn auch umstrittene Allergie-Neuauffassungen.
Die von Gell und Coombs angestoßene Vereinnahmung der Allergie durch die Immunologie wurde von zeitgleichen Erkenntnissen über die an der Typ-I-Überempfindlichkeitsreaktion beteiligten Antikörper erleichtert. Jahrelang hatten die Forscher vermutet, bei Allergien wäre der für die Mastzellen-Degranulation und für die Ausschüttung von Histamin verantwortliche Antikörper IgA beteiligt, eine Immunglobulinart, die seit den frühen 1960er-Jahren hauptsächlich mit den Abwehrkräften der Schleimhäute in Verbindung gebracht wurde.
1967 konnten jedoch Kimishige und Teruko Ishizaka, die am Children’s Asthma Research Institute and Hospital (Forschungsinstitut und Krankenhaus für Kinderasthma) in Colorado tätig waren, nachweisen, dass die für viele allergische Reaktionen verantwortlichen Antikörper nicht IgA waren, sondern das gerade erst isolierte Gammaglobulin. 1968 bestätigte die WHO die Identifizierung dieser neuen Art von Immunglobulinen, ihre Benennung als Immunglobulin E (IgE) und ihre zentrale Rolle bei den Soforttyp-Überempfindlichkeitsreaktionen. Die Belege untermauerten, dass IgE die charakteristischen stereochemischen und Antigen-Eigenschaften anderer Antikörper besaß, sowie die Erkenntnis, dass es maßgeblich bei der menschlichen Abwehrfähigkeit gegen parasitische Würmer war, und den Glauben an die biologischen Parallelen zwischen Überempfindlichkeit und Immunität.
Für einige Allergologen war die Entdeckung von IgE ein bedeutender Schritt auf dem Wege der klinischen Allergologie von einem „Aschenputteldasein“ zu einer legitimen Wissenschaft, da sie Allergieaspekte offenbarte, „die man identifizieren und messen konnte und die zur Definition der Krankheit beitragen konnten“. Auch wenn „die mit IgE in Verbindung stehende immunologische Explosion“ des Wissens, wie es 1973 in einer Besprechung hieß, half, die genauen Vorgänge der Typ-I-Überempfindlichkeitsreaktionen aufzuklären, so führte sie doch gleichzeitig zu Meinungsverschiedenheiten über den Zusammenhang von Labortests und klinischen Allergiediagnosen. Dadurch flammten die traditionellen Auseinandersetzungen über die experimentellen und die klinischen Allergiemodelle erneut auf. Seit dem frühen 20. Jahrhundert hatten Allergologen angenommen, Hauttests seien die zuverlässigsten Anzeiger für eine allergische Anfälligkeit, und die Wichtigkeit von Laboruntersuchungen der Anaphylaxie zur Erforschung menschlicher Allergien oft heruntergespielt. Im Jahre 1967 ermöglichten jedoch die Identifizierung von IgE und die Einführung neuer Labortests zur Messung des IgE-Grades eine bessere Enthüllung der allergischen Grundlage vieler Krankheiten auf wissenschaftlichem Wege.
Dennoch waren die anfänglichen Hoffnungen, dass die Laboranalyse womöglich „schnell den primitiveren Hauttest im medizinischen Alltag ersetzen“ könnte, verfrüht. Obwohl sich die WHO um die Einführung internationaler Standards bemühte, beunruhigte die Forscher, dass die einzelnen Labore technisch unterschiedlich ausgestattet waren, dass es Schwierigkeiten bei der Einschätzung von IgE-Graden für das Vorhandensein oder die Abwesenheit von Allergiesymptomen gab und dass die IgE-Grade je nach Alter und Geschlecht offenbar unterschiedlich waren und von genetischen sowie Umweltfaktoren beeinflusst wurden.
Trotz der offenkundigen Schwierigkeiten, die Laborergebnisse mit den klinischen Befunden in Einklang zu bringen, prägte im späten 20. Jahrhundert die Benennung von (und Schuldzuweisung an) IgE als das für viele allergische Reaktionen verantwortliche Immunglobulin das weite Gebiet der Immunpathologie sowie auch das kleinere Gebiet der Allergologie. Doch zunächst verschärfte die Auffassung, dass Gewebeschäden von ganz normal im Serum vorhandenen und für den Schutz vor Parasitenkrankheiten verantwortlichen Immunglobulinen verursacht würden, die Streitigkeiten über die Rolle der Wirtsreaktionsfähigkeit beim Krankheitsverlauf oder über die Auffassung von Krankheit als „Ärger von innen“. Ein zu kam noch der Nachweis, dass Autoantikörper bei chronischen Entzündungskrankheiten wie Thyreoiditis und rheumatischer Arthritis eine Rolle spielten. Wie Ohad Parnes erkannt hat, führte dies im Gegenzug zum Wiederaufleben ganzheitlicherer und ökologischerer Krankheitsauffassungen, die das „Gleichgewicht der heilenden und zerstörerischen Potenziale der Reaktionsfähigkeit des Körpers“ hervorhoben.
Zweitens: IgE bot für den pharmazeutischen Bereich neue Möglichkeiten, das wachsende Interesse an Allergien auszubeuten. Indem nun ein scheinbar wissenschaftliches Fundament zur Allergiediagnose zur Verfügung stand, lieferten die Labormessungen von IgE die Grundlage für eine Reihe käuflicher Allergietests, sowohl für Ärzte als auch für Patienten. Zusätzlich förderte der Nachweis der zentralen Rolle von IgE bei Krankheiten wie Heuschnupfen und Asthma eine genauere Beachtung der zellulären und biochemischen Vorgänge und Botenstoffe allergischer Reaktionen. Man hoffte, so neue pharmazeutische Strategien, nicht nur zur Behandlung und Prävention der steigenden Flut allergischer Krankheiten, sondern auch zur Erschließung eines immer größeren, weltweiten Marktes entdecken zu können.