Moderne Seuchte Zivilisationskrankheiten und Allergien
Zunächst muss jedoch mit Sydenham ganz allgemein davon ausgegangen werden, dass unsere chronischen Krankheiten selbst gemacht sind.
Thomas Beddoes
Die Allergie ist eine moderne Krankheit mit einer relativ kurzen, aber dennoch ergiebigen und zuverlässigen Geschichte. Auch wenn Asthma und Ekzeme seit der Antike als klinische Leiden bekannt waren und Heuschnupfen im frühen 19. Jahrhundert ausführlich beschrieben worden war, bahnte sich die Erkenntnis, dass diese chronischen Leiden möglicherweise eine gemeinsame Ursache haben und sich eine Krankheitsgeschichte teilen könnten, die man gut unter der Rubrik ,Allergie“ zusammenfassen konnte, erstmals um 1900 ihren Weg. Sie war Nebenprodukt der rasanten Entwicklungen der biomedizinischen Wissenschaft und der klinischen Praxis. Die Allergie erlangte schnell eine führende Stellung in der Moderne. Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde der Begriff „Allergie“ von Ärzten und ihren Patienten in der ganzen Welt auf eine immer größere Zahl von körperlichen und seelischen Symptomen angewandt. Man nahm an, dass allergische Reaktionen sowohl für Heuschnupfen, Asthma, Ekzeme, Urtikaria, Nahrungsmittelüberempfindlichkeiten und Reaktionen auf Kosmetika und andere synthetische Chemikalien verantwortlich waren als auch für viele andere körperliche und psychologische Symptome. Zur selben Zeit wurde .Allergie“ zu einer praktischen und populären Metapher für eine Reihe persönlicher, beruflicher oder politischer Antipathien. Manche Menschen verkündeten – nicht immer ironisch -, sie seien allergisch gegen harte Arbeit und Disziplin, gegen Montage, gegen Konkurrenten im Geschäft oder beim Sport, gegen andere Nationalitäten oder gegen ihre Schwiegermütter.
Hauptabsicht dieses Buches ist, die globale Geschichte der Allergie von vergleichsweise bescheidenen Anfängen in der Labor- und klinischen Medizin des späten 19. und frühen 20. Jahrhundert bis hin zu ihrer beherrschenden Präsenz als epidemiologisches und kulturelles Phänomen der Moderne nachzuzeichnen. Dabei werden nicht nur offensichtliche Kontinuitäten bei der Definition von und Erfahrung mit allergischen Krankheiten skizziert, sondern ebenso Unterschiede in Erscheinung und Bedeutung zu verschiedenen Zeiten und an anderen Orten. Innerhalb dieses ambitionierten Unterfangens soll das einleitende Artikel hier den theoretischen, zeitlichen und geografischen Rahmen abstecken und Hauptmerkmale der Argumentation und des Aufbaus der folgenden Abhandlung verdeutlichen.
Eine „moderne Seuche“
1906 führte der junge österreichische Kinderarzt Clemens von Pirquet (1874-1929) einen neuen Begriff in die Wissenschaftssprache ein. Mit der Absicht, einen konstruktiven Begriffsrahmen zum Verständnis und zur Erkundung einer Reihe scheinbar unzusammenhängender klinischer und experimenteller Beobachtungen innerhalb des im Entstehen begriffenen Gebietes der Immunologie zu schaffen, schlug Pirquet vor, den Begriff „Allergie“ auf jede Art wechselnder biologischer Reaktionsfähigkeit anzuwenden. Seine Vorstellung einer veränderlichen Reaktionsfähigkeit umfasste nicht nur die Immunität gegen Krankheiten, sondern auch Situationen, in denen ein Zustand sogenannter Überempfindlichkeit oder Hypersensibilität zu einer Gewebeschädigung führte. So konnte man seiner Ansicht nach bei der Serumkrankheit, dem Heuschnupfen, Reaktionen auf Mücken- oder Bienenstiche und bei verschiedenen charakteristischen Reaktionen auf Nahrungsmittel, aber auch bei der Immunisierung von Menschen gegen gewöhnliche Infektionskrankheiten wie Diphtherie und Tuberkulose von einer Allergie sprechen.
Pirquets Wortschöpfung wurde von seinen Berufskollegen nicht gut aufgenommen. 1912 tat der berühmte französische Physiologe Charles Richet (1850-1935) den neuen Begriff nonchalant als überflüssig ab. Erhöhte Sensibilität auf Fremdkörper (oder, um dichter an Richet zu bleiben, fehlender Schutz gegen sie), so argumentierte er, würde bereits hinreichend durch seinen eigenen Begriff ,Anaphylaxie1 abgedeckt: „Pirquet und Schick haben die Reaktion eines Organismus1 auf eine fremde Substanz Allergie genannt, aber es scheint mir nicht nötig zu sein, dieses Wort zusätzlich zu dem Wort Anaphylaxie einzuführen.“ Noch etliche Jahre später konnten sich der ungarische Kinderarzt Bela Schick (1877-1967), der zusammen mit Pirquet an der Klärung der Mechanismen der Serumkrankheit gearbeitet hatte, und der in Österreich geborene Arzt Hans Selye (1907-1982) an die Feindseligkeit erinnern, mit der die Zeitgenossen auf Pirquets „überflüssige Publikation und die Einführung eines neuen und nutzlosen Begriffs“ reagiert hatten.
Das Widerstreben der Kritiker Pirquets, die neue Terminologie anzunehmen, war verständlich. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden immunologische Vorgänge fast ausschließlich teleologisch als Schutz gegen eine Krankheit und nicht als potenzieller Gegenstand der Pathologie aufgefasst.
Wie Pirquet selbst erkannte, war sein Beharren auf eine enge biologische Verbindung zwischen Immunität und Überempfindlichkeit in vieler Hinsicht nicht nachvollziehbar, da „die beiden Begriffe einander widersprechen“. Es gab noch weitere Gründe für Widerstand gegen Pirquets Auffassung von immunologischen Erkrankungen. Obwohl die Serumkrankheit bei der Verabreichung von aus Pferden gewonnenen Antiseren für Menschen zum Beispiel gegen Krankheiten wie Diphtherie schon bald zu einem größeren Problem wurde, wurden die verschiedenen Leiden, für die Pirquet einen allergischen Ursprung annahm, allgemein als seltene, nicht tödliche Erkrankungen ohne großes klinisches Interesse angesehen. Verglichen mit anderen, dringlicheren medizinischen und sozialen Problemen der Moderne, wie steigende Sterblichkeitsraten bei Säuglingen und Müttern und anhaltend hohe Krankheits- und Sterblichkeitsraten durch akute Infektionskrankheiten, waren die allergischen Symptome in Krankenhaus und Labor lediglich eine Frage von begrenzter epidemiologischer, wirtschaftlicher, sozialer und politischer Bedeutung.
Die zeitgenössische Ablehnung von Pirquets Formulierung einer immunologischen Reaktionsfähigkeit erwies sich jedoch als voreilig. Im Laufe des 20. Jahrhunderts ist Allergie nicht nur erfolgreich in den Wortschatz rechtmäßiger medizinischer Leiden eingegangen, sondern auch in die Alltagskultur und Politik. Zu Beginn des neuen Jahrtausends waren Allergien allgegenwärtig, verliefen meistens verhängnisvoller als früher und wurden augenscheinlich von einer immer größeren Anzahl von Allergenen ausgelöst. Im Vereinigten Königreich sowie in vielen anderen Industrieländern wurde bei einem von drei Menschen zu irgendeinem Zeitpunkt seines Lebens entweder eine allergische Krankheit wie Asthma, Heuschnupfen und Ekzem oder eine Nahrungsmittel- oder Medikamentenallergie diagnostiziert. Noch beunruhigender war, dass immer häufiger Kinder von Allergien befallen wurden und in Entwicklungsländern immer mehr allergische Krankheiten auftraten. Als Ergebnis dieser globalen Entwicklungen wurden allergische Erkrankungen in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zu einem wichtigen Volksgesundheitsproblem für Einrichtungen wie die Weltgesundheitsorganisation und zu einer Hauptbelastung nationaler und globaler Wirtschaftsressourcen. In den 1980er-Jahren wurden die Kosten für allergische Krankheiten in den Vereinigten Staaten (in Form von Medikamenten, Krankenhausaufenthalten und Sprechstunden) auf 1,5 Milliarden Dollar jährlich geschätzt. Mitte der 1990er-Jahre war die Belastung auf schätzungsweise 10 Milliarden Dollar angestiegen.
Einem 2003 vom Royal College of Physicians (Königliche Hochschule für Ärzte) in London veröffentlichten Bericht folgend, kosteten Allergien das britische Gesundheitswesen ungefähr 900 Millionen Pfund im Jahr, den Bereitschaftsdienst in Unfall- und Notstationen, Hausbesuche und die Krankenhausbehandlung nicht inbegriffen. Im Vereinigten Königreich machte die Behandlung von allergischen Krankheiten zehn Prozent (0,6 Milliarden Pfund) der Rezeptkosten der medizinischen Grundversorgung aus, eine Zahl, „ähnlich hoch wie die Kosten für die von Hausärzten ausgestellten Rezepte für Magen-Darm-Erkrankungen (zehn Prozent des Gesamtbudgets) und fast halb groß wie die für kardiovaskuläre Leiden (23 Prozent des Gesamtbudgets)“.
In dem Maße wie Allergien in der Moderne zu einem wichtigen Thema für Kliniker, Hautärzte und Leiter des Gesundheitswesens wurden, wurden sie auch zu einem lukrativen Geschäft für die Industrie. Einige Pharmaunternehmen hatten seit Ende des 19. Jahrhunderts die Entwicklung von neuen Behandlungsmethoden gegen Heuschnupfen und Asthma finanziert, doch nach dem Zweiten Weltkrieg verschlang und erwirtschaftete die Produktion von Medikamenten zur Behandlung von allergischen Krankheiten große Geldmengen. Gleichzeitig veranlasste der starke Vormarsch von Allergien in der Moderne auch die Kosmetik- und Reinigungsmittelindustrie zu Investitionen, förderte die Entwicklung sorgfältigerer Produktionsstandards und die Beschriftung in der Lebensmittel- und Einzelhandelsbranche, führte zum Entstehen nationaler und internationaler Stiftungen, die neue Forschungen anstießen und Informationsblätter und Ratgeber für Patienten und ihre Familien verbreiteten, und beförderte eine ausführliche Berichterstattung in den Medien über die sogenannte den Planeten heimsuchende „moderne Seuche“ allergischer Krankheiten.
Und noch etwas führte zu wachsender Konzentration auf Allergien. Ebenso wie Menschen im späten 19. Jahrhundert gerne behauptet hatten, „ein bisschen schwindsüchtig“ zu sein, hielten sich Menschen im späten 20. Jahrhundert regelmäßig für „ein bisschen allergisch“ (und waren vielleicht sogar stolz darauf). Dieser Übergang von der Schwindsucht zur Allergie belegte nicht nur Veränderungen bei Vorkommen und Häufigkeit der beiden Leiden, sondern auch dass die Allergie wie zuvor die Tuberkulose zu einer klinische Konturen prägende aber auch überschreitende Metapher geworden war. Zur Jahrtausendwende wurde mit Allergie nicht allein eine Reihe von klinischen oder experimentellen Leiden benannt, die sich durch eine im engeren Sinne spezifische immunologische Reaktionsfähigkeit auszeichneten, sondern der Begriff ,Allergie“ konnte ebenso ganz allgemein jegliche physische und psychische Antipathie oder Reizbarkeit bezeichnen. Und einige Autoren sahen sie als ein deutliches Merkmal für Bildung und Kultiviertheit an. In politischen Kreisen fragte man sich, ob die steigende Zahl allergischer Krankheiten Resultat der fortschreitenden Störung des ökologischen Gleichgewichts sein könnte und folgerichtig wurde sie in die Kampagnen gegen die Umweltverschmutzung mit einbezogen. Daher hat sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Bedeutung von Allergien entscheidend verändert. Im epidemiologischen, sozialwirtschaftlichen, geopolitischen und kulturellen Denken hat die Allergie die Tuberkulose als archetypische Krankheit der modernen Zivilisation erfolgreich verdrängt (und ebenso verschiedene andere Krankheiten wie Gicht, Hysterie und Neurasthenie).
Das plötzliche Auftreten der Allergie in der modernen Welt ist eine eindrucksvolle Sache. Es hat zu größeren Veränderungen bei den Theorien von Krankheit und klinischer Praxis geführt, zum Entstehen und zur Koordination globaler Volksgesundheitsbelange, zur Zunahme multinationaler Pharmazeutik-, Kosmetik- und Reinigungsmittelunternehmen, zu bemerkenswerten Veränderungen bei den Haushalts-, Luft- und Arbeitsplatzbedingungen, zu einer größeren gegenwärtigen Sensibilität für Ökologie und Umwelt und zu der technischen und kulturellen Vielschichtigkeit der biomedizinischen Wissenschaft. Daher erhellt die Geschichte der Allergie entscheidende Veränderungen in der modernen Medizin und Gegenwartskultur. Gleichzeitig wirft sie wichtige historiografische Fragen auf: Wie ist der bemerkenswerte, die Moderne kennzeichnende epidemiologische Wechsel von akuten Infektions- zu Degenerationskrankheiten zu verstehen? Wie soll man die Geschichte einer Krankheit aufarbeiten und dabei sowohl der existenziellen Wirklichkeit von Krankheitssymptomen als auch den sich verändernden Bedeutungen von Krankheiten gerecht werden? Und wie lassen sich die Wechselwirkungen der Gesetzmäßigkeiten und Bedeutungen von Krankheiten und Zivilisationsprozessen erkunden?
Zivilisationskrankheiten
Im frühen 19. Jahrhundert veröffentlichte der Arzt und Apotheker Thomas Beddoes (1760-1808) einige ausführliche Abhandlungen, in denen er die Charakteristika der in wohlhabenden Gesellschaftsschichten weitverbreiteten Krankheiten beschrieb. Beddoes, der 1799 in Bristol die Pneumatic Medical Institution (Pneumatisch-Medizinische Anstalt) eröffnet hatte, wo verschiedene chronische Krankheiten (einschließlich Asthma) durch die Inhalation einer wohlausgewogenen Mischung diverser Gase oder „künstlicher Lüfte“ geheilt werden sollten, interessierte sich speziell für die Ätiologie, Behandlung und Prävention der beiden Tuberkuloseformen Schwindsucht und Skrofulöse. Einerseits war ihm aufgefallen, dass bestimmte Gruppen der arbeitenden Bevölkerung entweder aufgrund unzureichender Ernährung oder schlechter Arbeitsbedingungen besonders anfällig waren. Andererseits hob er das Ausmaß hervor, in dem die wohlhabenden, im Überfluss lebenden Schichten Opfer dieser Krankheit wurden. Für Beddoes war die Anfälligkeit der Mittel- und der Oberschicht für „die Riesenkrankheit unserer Insel“ nicht das Ergebnis von Vererbung, sondern eine Kombination aus sitzender Tätigkeit, modisch leichter Kleidung und ungesunder Umgebung: „Es wird sich zeigen, dass die Verwüstungen der Schwindsucht in häuslicher Misswirtschaft begründet liegen und nicht in unveränderlichen Naturgegebenheiten.“ Beddoes bestand darauf, „um den von uns der Schwindsucht gezollten Tribut an Leben zu reduzieren“, müsse sich die Gesellschaft zuallererst eingestehen, dass die weite Verbreitung von Tuberkulose Symptom selbst geschaffener sozialer Missstände sei: „Zunächst muss jedoch mit Sydenham ganz allgemein davon ausgegangen werden, dass unsere chronischen Krankheiten selbst gemacht sind.“
Beddoes’ Darstellung der Ätiologie und Pathogenese der Schwindsucht und sein Rezept zur Verbesserung der Volksgesundheit kann auf verschiedene Weise interpretiert werden. Zunächst ist offensichtlich, dass Beddoes Tuberkulose als eine moderne Zivilisationskrankheit ansah, als eine direkte Folge der zeitgenössischen Lebensweise und Umwelt oder, wie Roy Porter vorgeschlagen hat, als Ergebnis einer aufstrebenden Konsumgesellschaft und kapitalistischen Ideologie, die dem Streben nach Reichtum Vorrang vor der Gesundheit gegeben hätten. So gesehen waren Krankheiten wie Tuberkulose, Gicht und eine ganze Reihe von nervösen Beschwerden nicht Resultat einer internen Veranlagung, sondern Werk der Einrichtungen, Gewohnheiten und Organisation einer modernen Gesellschaft. Beddoes’ Feststellung einer Beziehung zwischen Zivilisation und Krankheit war natürlich nicht neu. Tatsächlich konnte er sich auf althergebrachte und allgemein bekannte Schilderungen von der Pathologie des Fortschritts stützen, die bereits von einigen medizinwissenschaftlichen Autoren der Aufklärung wie beispielsweise George Cheyne (1673-1743), William Cadogan (1711- 1797) und Thomas Trotter (1760-1832) systematisch erfasst und ausgewertet worden waren.14 Doch Beddoes betonte, wie wichtig für das Entstehen neuer Krankheitsstrukturen der schnelle soziale und kulturelle Wandel im Gegensatz zu bloßer individueller Unmäßigkeit sei.
Da ist noch ein weiteres Element in Beddoes’ Auffassung von der sozial bedingten Pathologie der Schwindsucht wirksam. Im 18. Und 19. Jahrhundert wurde Krankheiten wie Gicht, Nervosität und Tuberkulose eine symbolische Bedeutung zugesprochen, die in den zeitgenössischen Beschreibungen und Beobachtungen der unmittelbaren klinischen Symptome mitschwang und sie mitgestaltete. Bald gewann die Gicht eine eigene Kontur, so Roy Porter und George Rousseau.
Attraktiv wurde diese Krankheit nicht nur, weil sie als effektiver Schutz gegen andere, gefährlichere Leiden angesehen wurde, sondern auch, weil sie in den Augen der Öffentlichkeit und Ärzteschaft sowohl mit hoher Intelligenz als auch mit der Empfindsamkeit der gebildeten kultivierten Schichten in Verbindung gebracht wurde. Gicht wurde ein Ehrenzeichen, Krankheit und Ausweis der Kultiviertheit in einem. Katherine Ott hat darauf verwiesen, dass auf ähnliche Weise im späten 19. Jahrhundert „der Begriff ,schwindsüchtig zweifelsohne mehrere Bedeutungen hatte“, von denen nicht alle nur als wiederholt auftretende und vermeintlich objektive körperliche Symptome erklärt werden konnten. Schwindsucht1, das waren nicht nur die klinischen Symptome und pathologischen Prozesse der Tuberkulose, sondern das hatte auch einen romantisch-künstlerischen Beiklang: „Schwindsucht war nicht nur eine Krankheit des Körpers, sondern auch von Geist und Seele.“ So gesehen spielen Beddoes’ Worte darauf an, dass das Verständnis von Krankheiten und ihre Benennungen durch metaphorische und tatsächliche Übertragungen geprägt werden.
Indem er die tatsächlichen und kulturellen Bedingungen für Krankheiten offenlegte, wiederholte Beddoes eine bereits bekannte Kritik an der modernen Gesellschaft. Wie Charles Rosenberg unter Bezugnahme auf das Werk des amerikanischen Arztes George Beard (1839-1883) äußerte, war es jahrhundertelang üblich gewesen, „das Auftreten von Krankheiten und die Theorien ihrer Ursachen und Pathologie zur Formulierung und Legitimation von Kulturkritik zu nutzen. Ganz in dieser Tradition enthalte Beddoes’ Schwindsuchtansatz wie der von Beard an Neurasthenie und Heuschnupfen „ebenso viel soziale Stellungnahme wie medizinische Theorie. Auch wenn Beddoes persönlich zuversichtlich war, der Fortgang der Zivilisation und insbesondere die Fortschritte der Medizin würden schließlich passende Heilmethoden oder vorbeugende Mittel für moderne Krankheiten hervorbringen, hegte manch anderer pessimistischere Ansichten über die Kehrseite der Moderne und behauptete, die zivilisierte Gesellschaft (einschließlich der Medizin) sei selbst krank. Indem nachdrücklich auf die von Zivilisation und moderner Medizin hervorgebrachten Leiden verwiesen wurde, wurde dem fröhlichen „Loblied des medizinischen Fortschritts“ der Aufklärungszeit eine düstere Note verliehen, und die Unzufriedenen in Europa und Amerika traten für eine Rückkehr zu einem einfacheren und natürlicheren Leben auf dem Lande ein.
Beddoes’ Ansichten über Wohlstandskrankheiten und die Gefahren der Zivilisation haben noch eine tiefere Bedeutung, die in den kommenden Jahrhunderten von Max Nordau, George Beard, Sigmund Freud, Norbert Elias, Rene Dubos und vielen anderen wieder aufgegriffen und neu formuliert werden sollte. Wenn sich Zivilisationen verändern, ändern sich auch die Strukturen von Verhalten, Gesundheit und Krankheit. So tauchen zwangsläufig neue Krankheiten auf, um das Vakuum zu füllen, das der Rückzug älterer Erkrankungen hinterlassen hat. Der französischstämmige und ökologisch gesinnte Pulitzerpreisgewinner, Mikrobiologe und Experimentalpathologe Rene Dubos (1901-1982) sagt diesbezüglich: „Gesundheitsbedrohungen sind die unausweichlichen Begleiterscheinungen des Lebens.“ So gesehen entlarven sich die Träume von einer Welt ohne Krankheiten und ohne Ängste vor einer unvermeidlichen biologischen und sozialen Degeneration als von sozialen, politischen oder kulturellen Gegebenheiten hervorgerufene utopische oder dystopische Illusionen. Wie der in Polen geborene Soziologe Norbert Elias (1897-1990) vor vielen Jahren in seiner monumentalen Studie über den Zivilisationsprozess gesagt hat, sollte Zivilisation weder als „die fortgeschrittenste aller menschenmöglichen Verhaltensweisen“ angesehen werden, noch als „die übelste Lebensform und zum Untergang verurteilt[e]“:
Wir fühlen, dass wir mit der Zivilisation in bestimmte Verstrickungen hineingeraten sind, die weniger zivilisierte Menschen nicht kennen; aber wir wissen auch, dass diese weniger „zivilisierten“ Menschen ihrerseits oft von Nöten und Ängsten geplagt werden, unter denen wir nicht mehr oder jedenfalls nicht mehr in gleich starkem Maße leiden.
Elias’ ausgewogene und ganzheitliche Vision der Zivilisation als komplexem und dynamischem Prozess statt als fester Größe fand gelegentlich Widerhall in den philosophischen Überlegungen von Pathologen wie Dubos und Ludwik Hirszfeld (1884-1954) oder des bahnbrechenden polnischen Arztes Ludwik Fleck (1896-1961), die alle betonten, es vereinfache unangebracht stark und führe gleichzeitig in die Irre, wenn man Krankheit lediglich als einen Feind von außen ansehe.
Auch literarische Auseinandersetzungen mit Struktur, Verbreitung und Übertragung von Krankheiten wurden durch Sorge wegen der ökologischen Komplexität pathologischer Prozesse angetrieben. So insbesondere in Albert Camus’ Roman Die Pest von 1947, in dem Dr. Bernard Rieux von Jean Tarrou daran erinnert wird, dass „jeder die Pest in sich trägt, weil kein Mensch, nein, kein Mensch auf der ganzen Welt frei davon ist“. Wenn Körper potenziell krankheitserregende Organismen beherbergen (und unter bestimmten Umständen von ihnen abhängig sein) würden, oder wenn Körper sich gegen sich selbst wenden konnten, dann waren Krankheit und Tod integrale Bestandteile des Lebens und der Feind wirklich im Inneren.
Auch wenn es auffallende Unterschiede zwischen den Theorien von Krankheit und Gesellschaft des frühen 19. und denen des frühen 21. Jahrhunderts gibt, liefert Beddoes’ Konzept des komplexen Wechselspiels zwischen den Zivilisationsprozessen und den Strukturen von Gesundheit und Krankheit einen brauchbaren Rahmen zur Analyse des bemerkenswerten Auftretens der Allergie als moderne Krankheit. Zum einen können die steigenden Tendenzen allergischer Krankheiten eindeutig mit modernen Lebensstilen in Verbindung gebracht werden, oder genauer mit dem Vormarsch von Schadstoffen, die in steigender Zahl moderne Häuser und Büros sowie die Umwelt in der Stadt und in aller Welt überfluten. Die Ausdehnung historischer Denkmuster zu Verschmutzung und Krankheit auf die ganze Welt ist hier besonders angebracht.
Wie Rosenberg ausgeführt hat, kann das Vorherrschen chronischer Krankheiten nicht länger ausschließlich mit der „Stadt als krank machende Umgebung“ erklärt werden, sondern muss in einem viel größeren Zusammenhang „evolutionärer und weltweiter ökologischer Realitäten“ gesehen werden. Gleichzeitig wird jedoch offensichtlich, dass die Allergie – wie einst die Gicht – eine bestimmte Kontur annahm, die ihre weltweite Verbreitung und Akzeptanz im 20. Jahrhundert erleichtert hat. Einerseits ließen ideologische Verbindüngen, die manche Ärzte und Wissenschaftler zwischen Krankheiten wie dem Heuschnupfen und der Überlegenheit von Rasse, Bildung und Kultiviertheit gesponnen haben, die Allergie (oder zumindest gewisse Allergien) zu einem verlockenden und schicken Leiden werden. Andererseits mobilisierte im 20. Jahrhundert die Ausbreitung allergischer Krankheiten, ähnlich dem Anstieg von nervösen Beschwerden im 18. und 19. Jahrhundert, die Kritik von Umweltschützern und klinischen Ökologen an der modernen Industriegesellschaft und verstärkte ihr Streben nach einem einfacheren, harmonischeren Lebensstil, der auf das ökologische Gleichgewicht und den Umweltschutz achtet.
Menschen mit multiplen Allergien dienten einigen Autoren des späten 20. Jahrhunderts als warnendes Beispiel vor den Gefahren einer von der Industrie durch toxische Chemikalien verursachten Umweltverschmutzung. Wie zu Beddoes’ Zeiten lassen sich einmal erkannte Zusammenhänge von Gesundheit und Krankheit immer wieder zur Formulierung von Kulturkritik nutzen. Und schließlich kann man in der Allergie als archetypische Krankheit der modernen Zivilisation auch einen Ersatz sehen, der das epidemiologische und kulturelle Vakuum füllte, das der Rückzug anderer Modekrankheiten wie Hysterie oder Gicht hinterlassen hatte. Als intimer Begleiter des modernen Lebens, als deutliches Merkmal (oder Mahnung) der ökologischen Belastung und als wesentliches Anzeichen innerer Probleme lässt die Allergie daher auch die immer wiederkehrenden Ansichten der Pathologie und vielleicht auch der Psychopathologie des Alltagslebens glaubwürdig erscheinen.